Sie ist die dritte der drei Stipentiatinnen des Pastoralen Forums aus der Ukraine: Lyudmyla Ivanyuk hat 2019 in Wien mit dem Thema „“Das gesellschaftsdiakonische Engagement der Kirchen im Transformationsprozess der Ukraine“ promoviert. Auch sie schenkt uns Einblick in ihr „Kriegstagebuch“.
7 Uhr morgens, der 24. Februar, kaum meine Augen nach einer fast schlaflosen Nacht mit dem fünfmonatigen Kind öffnend, angstvoller Anruf von Mariana, Freundin aus der Slowakei: «Lyudmyla, wie geht es dir? Bei der ersten Gelegenheit pack bitte die Sachen ein und komm mit deinen Kindern zu uns, nimm die Eltern mit, die Verwandten, jeden, wen du mitnehmen könntest. Mein Haus ist immer für euch geöffnet.» Mariana weint. Wie ein Blitz schlägt der Anruf in meinem Kopf ein: «Krieg. Der wurde doch angefangen. Oder sei dies ein schrecklicher Traum?» Ich entschuldige mich bei Mariana mit dem Versprechen, später zurückzurufen und renne, die Nachrichten anzuschauen. Kinder schlafen noch, meine Eltern und ich sind noch lange an die erschreckenden Nachrichten gekettet, mit der ständigen Frage «Wie? Wirklich?» Alle sind sprachlos. Das Bewusstsein will das nicht akzeptierten. Lutsk, meine Heimatstadt in der Westukraine, wurde auch bombardiert. Also Krieg in vollem Umfang. Dann viele Messages von Freunden aus Europa, Entschuldigungen von einigen aus Russland. Manche bieten an, ins Ausland auszureisen. Ich will aber nicht. Ich zünde die Kerze an und bete…
Erst am dritten Tag des Krieges arrangieren wir zusammen mit den Nachbarn im Dorf den Luftschutzkeller. Ich packe den «Angstkoffer» (jetzt hat den jeder) ein, die Kindersachen für den Keller, aber nicht für eine Flucht. Meine Kinder sind noch sehr klein (Andrij ist 5 Monate alt und Paul ist 2 Jahre alt) und verstehen nicht, was passiert ist, die spüren es aber. Am Anfang haben sie bei Sirenengeheul (aus dem Handy) geweint. Ängstliche Unruhe wird übertragen, ich habe kein Recht, lange zu leiden, versuche, mich zusammenzureißen.
Emotio überwiegt über Ratio. Dann gibt es emotionale Sprünge, es kommt eine Woche der emotionalen und körperlichen Erschöpfung. Der Körper ist angespannt, das wirkt sich auf meine Gesundheit aus. Was aber das Schlimmste ist: Man beginnt sich an den Krieg, an eine andere Realität zu gewöhnen, in der man leben muss. Es geht nicht um die Realität einer fast zu 50 Prozent zusammengebrochenen Wirtschaft, leerer Regale (keine Möglichkeit, Kinderwindeln oder Babynahrung zu kaufen), sondern darum, ob du das von Gott geschenkte Leben retten kannst. Jetzt schmeckt das Leben ganz anders. Du nimmst dieses mit bitteren unangenehmen Gewürzen ein, nur um zu überleben. Mehr bewusst, mit Dankbarkeit verstehst du die Werte des Lebens an diesem heutigen Tag.
Jeden Tag verfolge ich die Nachrichten aus Russland und bin entsetzt über die Stimmung vieler Russen, die uns Ukrainer vernichten wollen.
Hat jemand von dem Scharfschützen-Theologen gehört? Ich kenne einen solchen. Hier, in der Ukraine, wird die neue Theologie geboren.
Es ist eine Zeit, in der einige Freunde mehr verwandt und einige Verwandte (in Russland) so fremd werden. Die Zeit, in der du nicht weiß, wem du dein Vertrauen schenken kannst.
Du bemerkst, wie die Bekannten aus Russland ihre Facebook-Posts mit dem Wort «Krieg» löschen. Ich mache mir Sorgen, dass pro-friedliche (pro-europäische-pro-ukrainische-pro-russische-pro-amerikanische) Freunde in Russland nicht verhaftet werden. Unter dem Code der Konferenz schreibe ich an Prof. Volkova, die Russland jetzt nicht verlassen darf.
Meine Familie befindet sich in einer relativ ruhigen Region. Nur ein paar Einschläge… Nachts blinkende Drohnen statt Sterne, das betäubende Getöse der Panzerkolonnen… Nicht mehr so beängstigend. Es ist vielmehr beängstigend, nicht mehr aufzuwachen.
Dieser Frühling wurde gestohlen, es kommt aber ein anderer…
Ich weiß nicht, wann und wie wir diesen Krieg gewinnen werden, ich weiß aber why (darüber später).
Als Erinnerungen aus einigen Briefen:
– an Prof. Gabriel: «… Ich hoffe sehr, dass der Inhalt von „Soll-Zustand“ (habe ich in meiner Dissertation beschrieben) irgendwann aktuell wird. Es geht auch darum, wozu das aktiv propagierte Konzept einer „Russischen Welt“ führen kann. Die Vorbereitung auf diesen schrecklich brutalen Krieg dauerte jahrelang. Die Zeit ist aber nicht zurückzudrehen. Ähnliche Entwicklungen gab es schon in der Geschichte, sie lehrten aber leider nicht, vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen. Die Welt sollte noch vorsichtiger sein! Beten wir um den Frieden!»
– an Prof. Mate-Toth: «… Heute sollte der Sonntag der Vergebung in der orthodoxen Kirche gefeiert werden.. In wie vielen Generationen dies aber ehrlich, mit offenem Herzen passiert, weiß man nicht. Es gibt viel zu sagen/zu schreiben. Leider bleibt das oft wie Altpapier, sowie viele Gespräche über das einheitliche Streben nach dem Frieden, über Solidarität usw. Viele Masken sind gefallen.. Ja, ich stimme auch zu: Viele russische Akademiker/Kirchenvertreter nahmen an internationalen Gesprächen gerne teil, wo sie einseitige Meinung äußerten, oder schwiegen (das aber ist auch eine Position), man hat naiv auf einen Dialog gehofft, beachtet wurde aber nicht, dass die Intentionen (total) andere waren, die Instrumente für den Frieden wurden verschieden angesehen. Schade! Diese Leute schweigen auch heute, in dieser schrecklichen Zeit! Da sage ich nicht über die grosse Politik, sondern über die Stimmung in der Intelligenz, welche die Mentalität des Volkes stark beeinflussen. Jeder von uns ist für diesen entsetzlichen Krieg verantwortlich. Wieviel hat Propaganda einer „Russischen Welt“ der Russisch Orthodoxen Kirche dazu beigetragen! Es werden Menschen auf beiden Seiten getötet: im russischen Militär und vor allem in der ukrainischen Zvilbevölkerung. Macht das einen Unterschied, oder? Wieviele Generationen wird es brauchen, um diese Wunden zu heilen?! …
Ich bleibe mit meinen Kindern im Dorf bei meinen Eltern. Wir wollen nicht flüchten. Mein Gebiet liegt an der Grenze zu Belarus. Wissen Sie, sagen da viele, dass wenn die belarussischen Militärtruppen eingreifen, werden viele von ihnen aufgeben, sie werden die ukrainischen Brüder nicht töten. Bis zum letzten will man sie als Brüder und nicht als politische Marionetten betrachten. Man will daran nicht glauben, obwohl es diese schreckliche Realität schon gibt.
Meine kleine Kinder (2 Jahre und halbes Jahr, die völlig von mir abhängen) sind jetzt Insel der Liebe und des Friedens. Sie retten mich und schenken mir die Hoffnung. In meinem Gebiet ist es relativ ruhig, jeder tut das ihm Mögliche: man webt Tarnnetze, kocht Essen für Bedürftige, bietet Wohnraum für die Binnenfüchtlinge. Oft belasten mich die Gedanken, dass ich persönlich zu wenig tue/tun kann.
Gott sei mit uns! Friede sei mit uns allen!»
– an Miroslawa: «Liebe Mirka, weißt Du, ich habe mich nie im Leben über jeden Morgen so gefreut wie jetzt.»
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Wer die drei Unkrainerinnen Lidiya, Kateryna und Lyudmyla für deren Hilfsprojekte und ihre Familien in den kommenden harten Zeiten unterstützen will –
Hier ist mein spezielles Hilfskonto: Paul M. Zulehner, ERSTEBANK AT69 2011 1283 6762 6709 (GIBAATWWXXX), Stichwort Lviv. – Und ich danke im Namen der drei Ukrainerinnen allen, die schon großzügig ihr Herz und ihre Geldbörse geöffnet haben.
Der Angriffskrieg
die Ursache
ein theologisches
Kräftemessen
unter Christenmenschen
den Feind
endgültig zu erlösen
die unteilbare Menschenwürde
nicht in Demut achtend
dem Vollkommenen
im Paradies
ihm macht das Morden
und Schlachten
von Unschuldigen
Frauen und Kindern
keine Sorgen