Ein Schatz in irdenen Gefäßen

Photo by: Joseph Krpelan (www.derknopfdruecker.com)

Zum Verhältnis von Synodalem Prozess und Katholischer Soziallehre.

Ingeborg G. Gabriel

Im weltweiten Synodalen Prozess werden auch Fragen um die Partizipation an kirchlichen Entscheidungsprozessen und an Ämtern erörtert. Das wird auch im neuen „Instrumentum laboris“, einem Vorbereitungsdokument für die erste Sitzung der XIV. Generalversammlung der Bischofssynode im Oktober 2023 deutlich. Ingeborg Gabriel stellt die Frage, welche Inspirationen sich für eine gesamtkirchliche Kultur der Synodalität aus den Leitwerten der Katholischen Soziallehre gewinnen lassen. Die Autorin ist emeritierte Professorin für Sozialethik am Institut für Systematische Theologie und Ethik der Universität Wien.

Seit der Publikation des Grundlagendokuments der Internationalen Theologenkommission (IThK) 1 2018 hat der weltkirchliche Synodale Prozess (SP) erheblich an Dynamik gewonnen.2 Die veröffentlichten Texte spiegeln eindrucksvoll Gemeinsamkeiten wie Unterschiede, Hoffnungen und Erwartungen einer regional vielfältigen Weltkirche wider. Ihre Grundintention ist eine Verlebendigung des Glaubens und eine Gestaltung der katholischen Kirche, so dass sie ihre missionarische Sendung unter den jeweiligen lokalen wie globalen Bedingungen bestmöglich erfüllen kann.

Das im Juni erschienene Instrumentum laboris für die Bischofssynode (IL) steht unter eben diesem Vorzeichen.3 Aufbauend auf den Abschlussdokumenten der Kontinentalversammlungen trägt es den Titel „Gemeinschaft, Sendung, Teilhabe“. Das Schwergewicht liegt hier wie in den vorherigen Texten auf der persönlichen Umkehr und der Förderung von Haltungen (Tugenden) wie jener des Aufeinander-Hörens und Aufeinander-Zugehens als Voraussetzung für einen gemeinsamen, vom Geist inspirierten Weg (syn-hodos). Strukturethische Fragen werden jedoch hier wie andernorts nicht grundsätzlich ausgeblendet. So betont das Vorbereitungsdokument (VD) die Bedeutung „einer Untersuchung, wie Verantwortung und Macht in der Kirche gelebt werden, sowie der Strukturen, mit denen sie verwaltet werden“ (VD 2). Im IL findet sich diese Ausrichtung verstärkt, wenn in aller Klarheit die Frage gestellt wird: „Wie können wir unseren Strukturen und Institutionen die Dynamik der missionarisch-synodalen Kirche einhauchen?“ (IL 57) und als Ziel sieht, dass „…die gemeinsame Taufwürde und Mitverantwortung in der Sendung nicht nur bekräftigt, sondern auch ausgeübt und praktiziert werden kann“ (IL 21), Anliegen, die in den „Arbeitsblättern“ weiter an Gewicht gewinnen (z. B. IL B.3.3.). Insofern die Frage nach Funktionalität sowie Gerechtigkeit von Institutionen innerhalb des theologischen Fächerkanons der Sozialethik und der Katholischen Soziallehre (KSL) zugewiesen ist, legt sich ein interdisziplinärer Brückenschlag zwischen den weithin dogmatisch argumentierenden Dokumenten des SP und den Grundprinzipien der KSL nahe. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als Impuls für einen derartigen binnentheologischen Dialog, der bisher weitgehend Desiderat ist.4 Sie sind nicht zuletzt von einer Grundeinsicht aus Evangelii gaudium inspiriert, wonach Erneuerungsprozesse gefördert werden, indem man Fragen auf einer neuen Ebene reflektiert (EG 19-33).Für die Pastoralkonstitution Gaudium et spes stehen Kirche und (moderne) Welt (hier als die Welt bezeichnet) in einem dialogischen Lernprozess. Unter der Überschrift „Die Hilfe, die die Kirche von der heutigen Welt erfährt“ heißt es, dass die „sichtbare, gesellschaftliche Struktur“ der Kirche durch zeitgenössische Entwicklungen bereichert wird, damit sie „besser und zeitgemäßer gestaltet“ werden kann (GS 44). Die forcierte Globalisierung der letzten Jahrzehnte hat die weltweiten Vernetzungen erheblich verstärkt, wobei – trotz aller Rückschläge – ein Ringen um die politischen Werte der Moderne in allen Kulturen und Nationen, vielfach unter aktiver Beteiligung von Christen und Christinnen, stattfindet (u.a. in Hongkong). Ethisch sind diese Prozesse von einer Sicht geprägt, die Wilhelm Korff  folgendermaßen charakterisierte: Es geht nicht nur um die Verantwortung für die Normen, d.h. für ihre Beobachtung und Einhaltung, sondern ebenso vor den Normen, d.h. um ihre gerechte Gestaltung.5 Die auf dieser Basis entwickelte politische Kultur basiert auf den Menschenrechten, einschließlich demokratischer Partizipationsrechte und sozialer Rechte. Sie ist eingebettet in kulturelle Kontexte, stellt jedoch auch einen eigenen Kontext der Weltgemeinschaft dar. Indem das IL den Schwerpunkt auf die Kommunikation zwischen den Kulturen und Religionen legt, ergänzt es den Ansatz von GS, blendet jedoch den säkularen Weltkontext mit seinen normativen Ansprüchen aus. Die Kirche hat diesen für den weltlichen Bereich anerkannt und vielfach weltweit erfolgreich vermittelt, u.a. durch Iustitia-et pax-Kommissionen.

Dies stellt vor die Frage, welche Bedeutung der globalen säkularen Rechtskultur für die Kirche und das innerkirchliche Leben selbst zukommt. Dogmatisch hat Walter Kasper bereits vor längerem die analoge binnenkirchliche Geltung der Sozialprinzipien unter dem Titel „Der Geheimnischarakter der Kirche hebt ihren Sozialcharakter nicht auf“ prägnant auf den Punkt gebracht.6 Das theologische Leitwort gratia supponit naturam et perficit eam impliziert ja, dass die komplexe und in stetem Wandel begriffene „Natur“ der weltlichen sozialen und politischen Ordnungen auch den kirchlichen Institutionen zugrunde liegt. Auch wenn es Aufgabe der Dogmatik bleibt, das Verhältnis von ecclesia ut mysterium und ecclesia ut societas sowie das Spannungsverhältnis von biblischen Vorgaben als norma normans (DV 2) und der faktischen Vielgestalt kirchlicher Institutionen in der Geschichte zusammenzudenken, kann die KSL zur Debatte um die Sozialgestalt der Kirche einen Beitrag leisten, indem sie ihre Grundprinzipien einbringt.7 Praktisch-pastoral bedarf die unterschiedliche Ausgestaltung kirchlicher und politischer Strukturen in der „Welt von heute“ zudem dringend einer theologischen Klärung, da katholische Gläubige in zwei Welten leben und die vernachlässigte Reflexion des Themas Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der binnenkirchlichen Ordnungen beschädigen.

Kirche und Welt: eine osmotische Beziehung

Die Krönungsfeierlichkeiten für King Charles III. gaben einen faszinierenden Rückblick auf jene sakralen Formen des Politischen, die das europäische Christentum über eineinhalb Jahrtausende prägten. Ihr Fundament bildeten vor allem imperiale römische Organisationsformen und römisches Recht, die kirchlich übernommen, transformiert und in die westliche Kultur hinein vermittelt wurden.8 Das mittelalterliche Ringen um die libertas ecclesiae trug seinerseits zur Schaffung jener Freiheitsräume bei, die liberale politische Ordnungen charakterisieren. Das Verhältnis von kirchlichen und politischen Strukturen, einschließlich feudaler und absolutistischer Herrschaftsformen, war historisch betrachtet im Wesentlichen ein osmotisches. Die beiden societates beeinflussten sich wechselseitig im Guten wie im Schlechten. Zugleich handelt es sich um Inkulturationsprozesse,9 die jedoch mit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts abrupt an ein Ende kamen.10 Die demokratisch-menschenrechtliche Ordnung, die in ihrer kontinentalen Form säkularistisch und anti-christlich war, stieß vor allem von Seiten des Lehramtes im 19. Jhd. bekanntlich auf vehemente Ablehnung. Diese wurde in der Folge zwar Schritt für Schritt gemildert, wirkt jedoch bis in die Gegenwart nach. Durch diese Distanzierung von der modernen Kultur blieb weitgehend unterbelichtet, dass wesentliche ihrer Grundlagen, gerade im Politischen, christlich inspiriert waren und in ihrer institutionellen und rechtlichen Form durch die katholische Theologie vorbereitet wurden (u.a. durch die spanische Spätscholastik und ihre Menschenrechtsentwürfe). Sie stellen von daher keineswegs einen locus alienus für die Kirche dar. Werte wie Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit, die Bedeutung des Bundes sowie der Menschenwürde sind ohne ihre jüdische wie christliche Vorgeschichte kaum verstehbar. Die Annahme einer grundsätzlichen Diskontinuität von politischer Moderne und Christentum verkennt diese wechselseitige Beziehung.11 Das Zweite Vatikanische Konzil brachte sie wieder zur Geltung und ersetzte eine zeitenthobene Abgrenzungslogik durch eine dialogische Zugangsweise. Diese wird vom Synodalen Prozess vertieft. Das Instrumentum laboris legt einen starken Akzent auf den Dialog als Sendung der Kirche (IL 24f) und betont insbesondere die Wichtigkeit eines Dialogs zwischen der römisch-katholischen Kirche und den katholischen Ostkirchen sowie mit anderen christlichen Kirchen, Kulturen und Religionen (B.1.3-5).

Die fundamentale Würde der Person in der Kirche

Oberstes Prinzip der KSL ist die Verwirklichung der gottgegebenen Würde jedes und aller Menschen. Sie bildet zugleich das Herzstück der christlichen wie der immanenten Ethik (GS 12).12 Angesichts der kosmischen Wirklichkeit ist dies eine kühne Glaubensüberzeugung, sei sie nun religiös oder säkular fundiert, die zugleich das Fundament aller Moral sowie der sozialen und rechtlichen Institutionen bildet. Die Menschenwürde gilt für die eigene Person mit ihren Pflichten und Rechten wie für alle anderen Menschen in ihrer Vielfalt. Die Pflicht zur Achtung vor jedem Menschen aufgrund seiner Geschöpflichkeit findet in der Moderne ihren rechtlichen und politischen Ausdruck in den Menschenrechten. Diese sollen als Grundrechte den Einzelnen vor willkürlicher Machtausübung durch den Staat schützen (Freiheitsrechte). Sie machen ihn/sie zugleich zum mitverantwortlichen Akteur für die Gestaltung des Gemeinwesens (Partizipationsrechte). Ihr Zweck liegt, wie jener von Gesetzen allgemein, nicht in ihnen selbst. Sie sollen vielmehr jene Rechtssicherheit garantieren und jene Freiräume schaffen, die Menschen zur Erfüllung ihrer Lebensaufgabe ermächtigen, ziviles Engagement ermöglichen und damit die politische und rechtliche Ordnung stärken. Eine schwache Rechtskultur und mangelnde Rechtssicherheit erschweren das Erreichen von Lebenszielen und wirken sich zudem korrumpierend auf die moralische Praxis aus. Eine derartige Sicht des lebensfördernden (und nicht primär sanktionierenden) Potentials von Gesetzen entspricht jener der Bibel, in der das Gesetz vielfach als Gabe Gottes gepriesen wird (so in den Psalmen, z.B. Ps 109) und die Gesetze des Bundesvolkes als Zeichen von „Weisheit und Bildung in den Augen der Völker“ gelten (Dtn 4,6).

Die heutige Einstellung zum Recht, vor allem zum kirchlichen Recht, ist hingegen ambivalent. Einem positivistischen Ansatz (der mit dem Naturrecht nur schwer vermittelbar ist) stehen binnenkirchlich jene Positionen gegenüber, die die Kirche als reine Liebesgemeinschaft begreifen, die eines rechtlichen Rahmens nicht bedarf oder bedürfen sollte. Dazu kommt eine Abwertung der Menschenrechte als Ausdruck eines westlichen Individualismus, sowie deren Reduktion auf die Freiheitsrechte unter weitgehender Ausblendung sozialer Rechte in den letzten Jahrzehnten. Trotz aller Auswüchse, die hier wie in anderen Bereichen bestehen, wäre es jedoch ein Missverständnis, zu meinen, dass das Hochethos des Evangeliums die Bedeutsamkeit rechtlicher Regelungen für das kirchliche (und gesellschaftliche) Leben schmälert. Gerade moderne Großinstitutionen sind auf rechtliche und gerechte Strukturen angewiesen. Dies gilt auch für die katholische Kirche. Angesichts dessen ist die Frage zu beantworten, welche Rolle den für den säkularen Bereich in der KSL anerkannten Menschenrechtsordnungen binnenkirchlich zukommen soll. Das Ziel ist hier wie dort, Räume der Rechtssicherheit und Freiheit und damit einen Rahmen zu schaffen, der die binnenkirchliche Kommunikation auf Dauer stellt und so das christliche Leben stärkt und zu seiner Mission befähigt. Die Taufe, die allen katholischen Christen und Christinnen die gleiche Würde gibt und ihnen die drei munera (lat. Dienste an der Gesellschaft; Ämter) des Königs, des Priesters und der Propheten überträgt, bildet hierfür die Grundlage (LG 32, zit. VD 12). Sie macht sie zu Bürgern und Bürgerinnen der Kirche. Die Gleichheit der katholischen Christen und Christinnen aufgrund der Taufgnade stellt, unter besonderer Betonung der Frauen, einen Eckpfeiler des IL dar. Durch sie wird die Sendung jedes Getauften begründet, in dessen Dienst Recht und Institutionen einer „voll und ganz dienstamtlichen Kirche“ stehen sollen (IL 20; B.2.2,3).

Hier ist an die von Papst Paul VI. eingesetzte Kommission zu erinnern, die zwischen 1965 und 1980 eine Lex Ecclesiae Fundamentalis (LEF) ausarbeitete. Dieser Entwurf einer Verfassung für die katholische Kirche enthielt einen Grundrechtskatalog und sah eine Reform des Kirchenverwaltungsrechts vor.13 Eine derartige Grundlegung kirchlichen Rechts wäre als Rahmenordnung und Grundlage eines innerkirchlichen Dialogs auf Basis der Meinungsfreiheit wünschenswert. Sie hätte zudem weitreichende Konsequenzen für das Selbstverständnis katholischer Christen. Das kirchliche Recht würde so zur Förderung katholischen Lebens beitragen, das wie jedes Gemeinschaftsleben der Freiheit und Solidarität bedarf (VD 13). Die Glaubwürdigkeit der Kirche nach innen wie nach außen und die katholische Sozialverkündigung, die wesentlich zur missionarischen Sendung der Kirche beiträgt, würden so gestärkt. Eine kirchlich analoge Formulierung sozialer Rechte (als integraler Bestandteil der Menschenrechte) würde zudem binnenkirchliche Solidarität als essentielles (und keineswegs nachgereihtes) Element christlichen Lebens verankern und den Austausch von Gaben zwischen den ärmeren und reicheren Kirchen und ihren Gläubigen auf eine stärkere, programmatische Grundlage stellen.14 Die Sorge um die Armen und Ausgegrenzten stellt ein zentrales Anliegen des IL mit seinem Leitbild einer im Sozialen solidarischen und eben dadurch missionarischen Kirche dar (IL 4; B.1.1).

Partizipation als Ausdruck menschlicher Würde

Der Synodale Prozess versteht die Kirche als aktive und partizipative Interaktionsgemeinschaft (z.B. IThK 67 f.; 73). Auch das IL betont vielfach die Bedeutung der freien Rede aller, vor allem der Schwächeren, und ihr Recht, angehört zu werden (IL 20 f). Während die Debatte um Synodalität in den 1980er-Jahren auf das Thema Subsidiarität fokussiert war, stehen nun Partizipation sowie die Suche nach adäquaten synodalen Modellen im Vordergrund. Die Demokratie wird dabei unterschiedlich bewertet. Sie wird zum einen, zusammen mit sozialer Freundschaft, als für die Kirche wesentlich angesehen (VD 2), an anderer Stelle jedoch wegen des Mehrheitsprinzips abgelehnt (VD 14). Hier bedarf es weiterführender Klärungen, da der Slogan: „Die Kirche ist keine Demokratie“ einer Überprüfung nicht standhält.15 Im Binnenraum der Kirche wurden seit apostolischer Zeit vielfältige Wahlformen praktiziert, u.a. in Orden entsprechend ihrer Konstitutionen, bei Papstwahlen u.ä.m. Schon das Neue Testament berichtet von der Wahl des Apostels Matthias (Apg 1,15-26). Der Wahlvorgang wurde hier, wie in kirchlicher Tradition allgemein, als geistliches Ereignis angesehen und durch Gebet und oft auch durch Fasten begleitet, um die Chance zu erhöhen, dass die gewählte Person oder die getroffene Entscheidung Gottes Willen entspricht.

In diesem Sinne stimmt das oft gehörte Diktum „über die Wahrheit kann man nicht abstimmen“ ebenso nicht mit der von jeher kirchlich geübten Praxis überein. Auf Konzilien, von Nicäa bis zum Zweiten Vatikanum, wurde auch über dogmatische Inhalte abgestimmt (nicht selten unter Beteiligung von Laien).16 Anderenfalls wäre eine Entscheidungsfindung gar nicht möglich gewesen. Die Zusammensetzung von Gremien, ihre Wahlordnungen, die erforderlichen Mehrheiten, festgelegten Amtsperioden sowie die Voraussetzungen für das aktive wie passive Wahlrecht variierten dabei und waren nicht zuletzt durch die jeweiligen politischen und kirchlichen Machtverhältnisse bestimmt. Wiewohl ein Konsens grundsätzlich Mehrheitsentscheidungen vorzuziehen ist (IL 39), ist doch zu fragen, auf welchen Ebenen dieser konkret praktizierbar ist. Es wäre auch verfehlt, demokratische und hierarchische Elemente einer Verfassung grundsätzlich als Gegensatz zu begreifen. Auch demokratische Wahlen schaff en Hierarchien, wobei die Tätigkeit der Amtsinhaber durch die Gesetze geregelt ist. Die theologische Aussage, dass alle Macht von Gott stammt (Röm 13,1), legt weder staatlich noch kirchlich die Art und Weise fest, wie diese Macht faktisch verteilt und verwaltet werden soll, um ihren Aufgaben für die jeweilige Gemeinschaft gerecht zu werden. Anders gesagt: Eine Theokratie im eigentlichen Sinn kann es nicht geben, da Gott immer durch Menschen herrscht, die innerhalb der von ihnen geschaffenen, sich wandelnden und gestaltbaren Institutionen agieren. Während jedoch die demokratische Partizipation als Ausdruck ziviler Würde und Gleichheit in der Moderne entscheidend ausgeweitet wurde, steht dem innerkirchlich ein Prozess der Zurückdrängung und Einschränkung gegenüber. Dies ist nicht zuletzt angesichts der in der KSL vertretenen partizipativen Grundmodelle im politischen wie im wirtschaftlichen Bereich (betriebliche Mitbestimmung) reflexions- und korrekturbedürftig. Partizipation stellt kein Allheilmittel dar, wie säkulare Demokratien sowie die Diskussionen in jenen Kirchen zeigen, die synodal organisiert sind.17 Dennoch erscheint eine grundsätzliche Skepsis gegenüber demokratischen Organisationsformen nicht gerechtfertigt, da synodale Strukturen gleichfalls mit jenen Herausforderungen konfrontiert sein werden, vor die jede Art von partizipativer Entscheidungsfindung stellt. Zielführend wäre es, die in der Kirche vorhandenen Formen der Partizipation zu analysieren und auf ihre Tauglichkeit für andere Bereiche zu untersuchen.

Macht, Dienst und Subsidiarität

Das Wort „Macht“ erscheint im kirchlichen Diskurs vielfach negativ konnotiert und wird durch den Begriff  „Dienst“ ersetzt. Dies stellt jedoch eine anthropologische Verkürzung mit potentiell weitreichenden Folgen dar. Zum einen liegt einer derartigen terminologischen Umdeutung die Annahme zugrunde, dass Macht in sich eine Art Übel sei. Faktisch ist sie jedoch Teil aller menschlichen und sozialen Realität. Die Macht von Personen besteht u.a. darin, sich selbst zu erhalten, mit anderen zu interagieren und Einfluss auf ihre Umgebung auszuüben. Sie wird durch Institutionen maßgeblich gesteigert. Das Wort eines Professors zählt mehr als das des Redners auf einer Kiste im Hyde Park; jenes des Präsidenten mehr als das des einfachen Bürgers; jenes des Bischofs mehr als das eines beliebigen Laien. Selbst die Schriften verborgener Heiliger wären unbekannt, hätten nicht meist kirchliche Institutionen sie verbreitet. Die gerne vorgenommene Entgegensetzung von persönlichem Glauben und (kirchlichen) Strukturen entspricht von daher nicht der Realität. Kompetenz und Engagement werden durch und in Institutionen wirksam. Sie vollziehen sich in sozialen Kontexten, die Christen und Christinnen unterschiedliche Arten der Wirkmacht übertragen. Eine Terminologie, die Macht durch Dienst ersetzt, übersieht zudem, dass Macht für höchst unterschiedliche Ziele eingesetzt werden kann. Ethisch lässt sich nach Thomas von Aquin zwischen guten, schlechten und neutralen Zielen unterscheiden,18 wobei faktisch die Intentionen sowie die Art der Machtausübung immer eine Mischung von (neutralem) Selbsterhalt, Fehlbarkeit und Sünde, und guten Zielen darstellen. Persönliche wie institutionell vermittelte Macht in (selbstlosen) Dienst zu verwandeln, stellt von daher ein hochethisches, innerirdisch nie ganz verwirklichbares Ziel dar.19 Die vorfindlichen Strukturen und Institutionen, innerhalb denen dies realisiert werden soll, sind ihrerseits das Ergebnis von Handlungen und Entscheidungen früherer Akteure mit ihren gleichfalls diversen Intentionen. Aufgrund der in ihnen wirksamen, hinderlichen Elemente sind sie immer zugleich „Strukturen der Sünde“. Dies gilt nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die Kirche. Sie bedürfen so der Umformung, re-formatio, um ihre Funktion hic et nunc bestmöglich zu erfüllen und Machtmissbrauch möglichst zu verhindern.

Das in Quadragesimo anno (Nr. 79) erstmals formulierte Subsidiaritätsprinzip geht davon aus, dass institutionelle Macht eine Tendenz zur Akkumulation hat, der es entgegenzuwirken gilt. Daher ist es im Sinne einer das Gemeinwohl fördernden Machtverteilung geboten, dass größere (politische) Einheiten nicht die Kompetenzen kleinerer an sich ziehen und aufsaugen. Papst Pius XII. hat bereits betont, dass dieses Prinzip auch für den kirchlichen Binnenraum Geltung beanspruchen kann. Er bezeichnete es als grundlegendes Baugesetz der Kirche, das die persönliche Würde der Gläubigen stärken soll.20 Das VD (9) bekräftigt dies und verbindet es mit dem Anspruch der Solidarität. Indem das IL die Bedeutung der Ortskirchen als Basis kirchlichen Handelns mehrfach betont, wird das Subsidiaritätsprinzip gleichsam konkretisiert, ohne dass das Wort selbst aufscheint. Die kirchliche Missbrauchskrise hat die Reflexionen über Subsidiarität insofern vorangetrieben, als sie die Schaffung von Kontrollmechanismen im Sinne von checks and balances für den binnenkirchlichen Bereich gefördert hat. Die hier gemachten Erfahrungen hinsichtlich der Ausgestaltung von Institutionen und der Machtverteilung könnten dazu beitragen, Wege innerkirchlicher Machtbegrenzung zu finden, die deren Missbrauch auch in anderen Bereichen hintanhalten.

Das Gemeinwohl: Suprema lex kirchlichen Handelns

Oberstes Ziel jeder Gemeinschaft ist nach der KSL ihr Gemeinwohl. Der Begriff  mit langer sozialphilosophischer Tradition21 lässt sich im von Cicero geprägten suprema lex salus populi als politische Handlungsmaxime zusammenfassen. Diese Gemeinwohlperspektive ist Teil der Sendung der Kirche ad extra (IL B.1.1). Doch könnte sie nicht auch ad intra für die Kirche ut societas bedeutsam sein und dazu beitragen, festgefahrene Vorstellungen, z.B. hinsichtlich des Zugangs zu Ämtern, aufzubrechen? Die obersten Ziele der Kirche sind das Wachstum aller im Glauben und die Befähigung der Gläubigen zur Sendung und zum Zeugnis für das Reich Gottes. Kirchliche Institutionen haben, wie alle Institutionen, ihr Ziel nicht in sich selbst. In diesem Sinn definiert das Zweite Vatikanum die Kirche als Sakrament, „das heißt in Christus als Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Das IL greift diese Definition an zentraler Stelle auf (IL 28) und verweist damit auf den Sendungscharakter sowie die funktionale Rolle von Strukturen und Institutionen als Werkzeug (instrumentum), das dazu bestimmt ist, den Gläubigen und allen Menschen das Wohl (Heil) zu vermitteln. Strukturen bilden gleichsam das Haus, in dem die Kirche als Gemeinschaft lebt und in das sie Menschen einladen will. Ob sie gastlich sind oder nicht, entscheidet vielfach darüber, ob diese Mission gelingt. Die Verfasstheit der Kirche legitimiert sich daher weder als Resultat eines evolutionären Prozesses, noch lässt sie sich aus den biblischen Texten direkt ableiten. Sie ist vielmehr daran zu messen, ob sie dem Gemeinwohl in hoc tempore dient und die Kirche zu einer „Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils“ macht (LG 9).

Der Beitrag ist mit einer Stelle aus dem zweiten Korintherbrief übertitelt, dessen Übersetzung, „irdene (tönerne) Gefäße (ostrakinos)“, dem englischen Text folgt. Die deutsche Einheitsübersetzung spricht von „zerbrechlichen Gefäßen“. Menschen und Institutionen sind beides. Ihre Zerbrechlichkeit erfordert einen sorgsamen Umgang. Die irdene Beschaffenheit macht sie zudem wandel- und formbar, begrenzt und unvollkommen. Ihr Zweck ist jedoch immer, den Schatz des Glaubens in der jeweiligen Zeit hinein zu vermitteln, im Wissen – so der Vers weiter – dass das „Übermaß der Kraft (dynamis) von Gott und nicht von uns kommt“ (2 Kor 4,7). 3

Anmerkungen

  1. Internationale Theologische Kommission (ITh K): Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche. Auf: <https://www.vatican.va&gt;.  Vgl. dazu Markus Graulich und Johanna Rahner (Hgg.): Synodalität in der katholischen Kirche. Die Studie der Internationalen Theologischen Kommission im Diskurs (QD 311). Freiburg 2020.
  2. Dieser Text ist die erweiterte Version eines Vortrags mit dem Titel „A Treasure in Earthen Vessels“ für die diesjährige Tagung „Towards a Synodal Church“ in Indien. Die ursprüngliche engl. Fassung erscheint in Shaji Kochuthara (Hg.): Towards a Synodal Church. Bangalore 2023 (in Vorbereitung).
  3. XVI. Generalversammlung der Bischofssynode: Instrumentum laboris für die erste Sitzung (Oktober 2023). Auf: <www.dbk.de/fi  leadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2023/2023-Instrumen tum-laboris-TED.pdf>.
  4. So bereits Peter Hünermann: Die Sozialgestalt von Kirche. Gedanken zu einem dogmatischen und zugleich interdisziplinären Arbeitsfeld. In: Marianne Heimbach-Steins, Andreas Lienkamp und Joachim Wiemeyer (Hgg.): Brennpunkt Sozialethik. Th eorien, Aufgaben Methoden. Freiburg 1995, 243-259.
  5. Wilhelm Korff : Grundzüge einer künftigen Sozialethik. In: Ders.: Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik. München 1985, 95-118, 96.
  6. Walter Kasper: Der Geheimnischarakter der Kirche hebt ihren Sozialcharakter nicht auf. Zur Geltung des Subsidiaritätsprinzips in der Kirche. In: HerKorr 41 (1987), 232-236.
  7. Hünermann (Anm. 4), 247-249.
  8. Ausführlich Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie I. Berlin 2019, 584-757; vgl. auch Harold Berman: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition. Frankfurt am Main 1995.
  9. Ingeborg G. Gabriel: Kenosis and Krisis. Christianity’s Inculturation into Modernity. In: Daniel Munteanu und Sorin Selaru (Hgg.): Holding fast to the Mystery of the Faith. Paderborn 2022, 97-113.
  10. IThK (Anm. 1), 35, führt den kirchlichen Reformbedarf auf die Gegenreformation und das Tridentinum zurück. Sozialethisch spielte die Abgrenzung von der politischen und wirtschaftlichen Moderne gleichfalls eine zentrale Rolle. 
  11. Ausführlich Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt am Main 2009. Ders.: A Catholic Modernity? Th e Marianist Award. Dayton 1996.
  12. Vgl. Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2011.
  13. Einzelne Rechtsbestimmungen wurden in den CIC 1983 übernommen. 
  14. Vgl. Hans Maier: Was die Kirche vom demokratischen Staat lernen kann. In: Communio 51 (2022), 467480. 
  15. Vgl. Valentin Zsifkovits: Die Kirche, eine Demokratie eigener Art? Münster 1997; Hans Maier: Keine Demokratie? Laienmeinungen zur Kirche. Freiburg 2006.; Wolfgang Beinert: „Die Kirche ist keine Demokratie“. Ein Satz auf dem Prüfstand. In: StdZ 148 (1/2023), 3-11.
  16. Vgl. Hans Küng: Strukturen der Kirche. München 1987 (1967), 77-104.
  17. Vgl. z.B. Rowan Williams: Synodalität und die anglikanische Tradition. In: Communio 51 (2022), 377-391.
  18. Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II q.47, a 13, vollst. ungek. Deutsch-lateinische Ausgabe, Heidelberg 1966, 226-229. 
  19. Der Begriff  kann neutral gebraucht werden, wie z.B. beim Militär „Dienst tun“. 
  20. Zit. nach Arthur Fridolin und Joseph-Fulko Utz-Groner: Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII., Bd. 2. Freiburg 1954, 4086-4111, 4094. Vgl. dazu Walter Kasper (Anm. 6).
  21. Vgl. Ingeborg G. Gabriel: Ethik des Politischen. Grundlagen – Prinzipien – Konkretionen. Würzburg 2021, 144-201.

Quelle: Stimmen der Zeit 8/2023, 623-623.

Dieser Beitrag wurde unter Ergebnisse veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Ein Schatz in irdenen Gefäßen

  1. Martin Fischmeister schreibt:

    Eine der eindrucksvollsten christlichen Bischöfe ist Desmond Tutu – in der Beilage eine Sequenz aus der letzten Veröffentlichung des Lancet: Committee on Health and Human Rights: Panel 1. Man fragt sich, warum das alles nicht auch in der katholischen Kirche möglich ist. Mit freundlichen Grüßen Martin Fischmeister

Hinterlasse einen Kommentar