„The only thing we have to fear, is fear itself.“

(Franklin D.Roosevelt, 1933). Für eine Kultur des Vertrauens. Lindau (IPG), 31.10.2023.

[Sie können den Vortrag auch auf meiner Homepage ansehen und anhören.]

Es war der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der inmitten der Großen Depression des Jahres 1933 in seiner Antrittsrede den Versammelten den kantigen Satz zurief: „The only thing we have to fear is fear itself!“ (Das Einzige, wovor wir Angst haben sollen, ist die Angst selbst!).

Grund zur Angst gab es damals genug. Der Friedensschluss von Versailles hatte die Verlierer gedemütigt. Diese dunkle Emotion ging mit einer gravierenden Weltwirtschaftskrise eine toxische Mischung ein. Wie heute hatten politische Populisten Aufwind. Der Antisemitismus florierte, nicht zuletzt wegen der unausrottbaren Erzählung, dass am Elend der Massen immer die Juden schuld waren und sind. Die Katastrophe des Nationalsozialismus mit seinen dramatischen Folgen zeichnete sich am historischen Horizont ab. Die Welt taumelte in den Zweiten Weltkrieg mit seinen Millionen Toten. Städte wurden gnadenlos zerbombt. Das jüdische Volk wurde mit der Mordindustrie der Konzentrationslager ausgerottet.

Die Welt taumelt

Ist die Weltlage heute nicht ähnlich? Der in den USA geborene und am Institut internationale de Philosophie in Paris lehrende Sozialethiker Peter McCormick formulierte dies am 24.2.2022 in einer Onlinekonferenz der griechisch-katholischen Universität in Lviv im einzigen Referat der Tagung, die dann umgehend wegen Luftalarm abgebrochen werden musste, mit folgenden Worten: „We are living in a tumbling world.“ (Wir leben in einer taumelnden Welt.)

„Taumeln“ machen die Welt Megachallenges, oder wie Nouriel Roubini sie nennt: „Megathreats“ (Roubini, Nouriel: Megathreats. 10 Bedrohungen unserer Zukunft – und wie wir sie überleben, München, 2022). Diese Herausforderungen sind ineinander verwoben und schaukeln sich gegenseitig hoch. Sie sind medial allgegenwärtig; ich erinnere stichwortartig an sie:

  • Ein „dritter Weltkrieg auf Raten“, wie Papst Franziskus die vielen kriegerischen Konflikte bündelt, hält die Menschheit in Atem;
  • Es herrscht ein Klimanotstand, der deshalb derart dringlich ist, weil nach Auskunft der UN-Beobachtungsorganisation IPCC (Intergouvernemental Panel vor Climate Change) das Klimasystem vor irreversiblen Kipppunkten steht, was die Bewohnbarkeit der Erde auf Generationen hinaus bedroht;
  • Die Migration in und zwischen Ländern hat wegen der Hoffnungslosigkeit der Armen, der politischen Verfolgung und lokaler Klimakatastrophen die Rekordmarke von 100 Millionen weit überschritten; unter den Schutzsuchenden sind großteils Frauen und viele unbegleitete Kinder. Seit 2022 sind in der Ukraine Millionen von Menschen innerhalb der Ukraine und in alle Welt verstreut auf der Flucht. Dieser Tage kam mehr als eine Million Binnenflüchtlinge mit himmelschreienden Lebensbedingungen im Gazastreifen dazu. Natürlich ist der brutale Terror der Hamas absolut verwerflich. Aber er allein rechtfertigt nicht das Leiden so vieler Alten, Frauen und Kinder in Palästina. Es ist Israel in 56 Jahren nicht gelungen, einen gerechten Frieden ohne Waffen und ohne Landbesetzungen durch Siedler zu schaffen.
  • Fachleute verweisen schließlich auf den Vormarsch der Künstlichen Intelligenz. Wie die Industrialisierung zu einer enormen Sozialen Frage geführt hatte, werde dies auch durch die Informatisierung und Roboterisierung geschehen. Auch diese neue Soziale Frage werde mit mächtigen gesellschaftlichen Konflikten einhergehen.

Die Balance zwischen der Ökonomie, der Ökologie und dem Sozialen wird den Verantwortlichen enormen Mut zur Zumutung und Stehvermögen inmitten der Unvereinbarkeit der vielen gegenläufigen Interessen abverlangen.

Culture of Fear

Diese Megachallenges werden in den Regionen der Erde durch das Anschwellen starker Emotionen begleitet, welche die Weltpolitik prägen. Der französische Politologe Dominique Moïsi (Moïsi, Dominique: Kampf der Emotionen. Wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen, München 2009.) ortet in den verschiedenen Regionen der Erde ganz unterschiedliche Grundstimmungen und Gefühlslagen:

  • In China und Indien, die er zu „Chindia“ bündelt, dominiere „hope“, Hoffnung. Die Bevölkerungen sind jung. Die Menschen haben mit Blick auf die Zukunft ihrer Völker ein hohes Maß an Hoffnung und Zuversicht.
  • Die arabische Welt sei hingegen durch „humiliation“ (Demütigung, Kränkung) gezeichnet. Die Cruise-Missiles eines Georg W. Bush im Verbund mit Tony Blair haben die arabische Welt tief traumatisiert. Dem Terror eines Osama bin Laden, der durchaus begütert war, wurde so ein fruchtbarer Nährboden geschaffen. Diese Demütigung der arabischen Welt prägt bis in unsere Tage hinein den Konflikt in Palästina. Der Generalsekretär der UNO Gustavo Gutierrez legte den Finger in diese Wunde des palästinensischen Volkes. Dieses möchte in einem eigenen Staat in Gerechtigkeit und Frieden leben, wozu für sie die Zweistaatenlösung eine taugliche Grundlage wäre. Die Region war mit dem unter Jizzakh Rabin und Jassir Arafat unter Vermittlung von Bill Clinton ausgehandelten Friedensvertrag einer solchen gerechten Lösung ganz nahe. Bewegend der Satz aus diesem Vertragsentwurf: „Wir wollen künftig nicht nur die eigenen Leiden erinnern, sondern auch die Leiden unserer bisherigen Feinde nicht vergessen und beim eigenen Handeln in Betracht ziehen.“ Der Vertrag kam nicht zustande, weil der fanatisch-radikal-orthodoxe Jude Jigal Amir dem israelischen Premier Jizzakh Rabin erschoss. Die Wurzeln des Konflikts reichen tief. Terror und Krieg werden nicht zu einem dauerhaften Frieden führen: Denn nur wenn Gerechtigkeit und Frieden sich küssen, wie es der Psalm 85,11 besingt, kann dauerhafter Frieden werden.
  • Schließlich diagnostiziert Dominique Moïsi in den reichen Weltregionen Nordamerika und Europa „a culture of fear“ (eine Kultur der Angst). Er erhält dabei Unterstützung durch einschlägige Publikationen renommierter Fachleute wie Frank Furedi aus den USA (Furedi, Frank: Culture of fear, New York 1997) oder dem Soziologen Heinz Bude aus Deutschland (Bude, Heinz: Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014).

Das ist somit ein erster Befund meiner politischen Meditation: Megachallenges machen unsere Welt taumeln. Und just in dieser Zeit gehen der Welt die Hoffnungsressourcen aus. Das allein ist Grund zur Sorge, denn schon die biblische Tradition verbindet Hoffnung und Zukunft. Der Prophet Jeremia macht im Namen Jahwes dem verbannten Volk Mut: „Ich will euch Hoffnung und Zukunft geben!“ (Jer 29,11) Angst erschwert den Weg in eine lebenswerte Zukunft.

Diese Sorge wird noch dadurch gesteigert, dass politische Populisten die Angst für ihre wahltaktischen Machtinteressen missbrauchen. Populisten schüren gezielt die Ängste der Bevölkerungen und machen folglich eine „Politik mit der Angst“ (Ruth Wodak: Politik mit der Angst, Wien-Oxford 2016). Sie versprechen einfache Lösungen für die komplexen Herausforderungen und gewinnen so viele, die sich durch die Komplexität der Herausforderungen überfordert und von der Politik im Stich gelassen fühlen.

In einem zweiten Schritt will ich nunmehr tiefer graben. Zwei Teilthemen will ich mit Ihnen meditieren. Plakativ tragen sie die Titel: Angst verstehen und in der Angst bestehen. Ich werde auch in den kommenden Nachdenklichkeiten der inter- und transdisziplinären Methode treu bleiben.

Angst verstehen

Urvertrauen und Urangst

Monika Renz ist Tiefenpsychologin, Theologin und Musiktherapeutin. Sie arbeitet in der Onkologischen Abteilung in St. Gallen. Ich schätze ihr Konzept über das Werden eines Menschen from womb to tomb, von der Wiege zur Bahre, genauer vom Ursprung bis zum Ziel.

In ihrem Hauptwerk „Angst verstehen“ (Renz, Monika: Angst verstehen, Freiburg 2018) nimmt sie an, dass jeder Mensch aus einem „paradiesischen Zustand“ in den Mutterschoß gelangt.

Dabei lässt sie offen, welchen Namen diesem „Paradies“ gegeben wird. Sie sympathisiert mit dem Konzept von Carl G. Jung von einem Selbst, welches den bleibenden Kern des Menschen ausmacht. Durch dieses Selbst wurzeln wir in unserem geheimnisvollen Urgrund ein. Im Lauf des Lebens reift es zu einem Ich heran, um im Tod wieder ins Paradiesische zurückzukehren (Monika Renz: Hinübergehen, Freiburg 2011).

Dieser paradiesische Zustand ist durchflutet von Urvertrauen, welches ein Menschenwesen als Mitgift ins Leben mitbringt. Dieses bleibt auf dem Grund der menschlichen Existenz ein Leben lang wirkmächtig und drängt zum Wachsen und Reifen. Ein grundoptimistischer Ansatz, den auch die ungarische Kinderärztin und renommierte Fachfrau für frühkindliche Pädagogik Emmi Pitzler vertrat.

Im Kontrast dazu überlagert diesen Seelengrund mit dem hellen Urvertrauen schon früh eine dunkle Schicht, die Monika Renz Urangst nennt. Diese Urangst entsteht, wenn sich das duale Bewusstsein im Mutterschoß auszubilden beginnt: hier das erwachende Ich und dort die „Welt“. Das werdende Menschenleben gelangt – um an den Genesisbericht zu erinnern – gleichsam unter den Baum der Erkenntnis (Gen 2,9), und das in einem ganz praktischen Sinn. Es vernimmt den Herzschlag der Mutter, hört Musik und Geräusche, und dies alles nach einer paradiesischen Stille. Eine Vertreibung aus dem Paradies des Urvertrauens findet statt, in radikalem Sinn bei der Geburt, weshalb alle Menschen als Paradiesesvertriebene einen Migrationshintergrund haben.

Im Zuge dieser Erfahrung beim Erwachen des Bewusstseins formt sich, so Monika Renz, Urangst aus, welche zugleich und ineinander verwoben zwei Hauptdimensionen hat: es wird zu viel und es ist zu wenig; es ist bedrohlich und man fühlt sich verloren.

Diese Dimensionen der Urangst nehmen im Lauf des Lebens unentwegt neue Gesichter an. So zeigt meine Studie über Ängste in der Flüchtlingszeit (Zulehner, Paul M.: Bange Zuversicht, Ostfildern 2016), dass von vielen der gewaltige Zustrom von Schutzsuchenden vom Bahnhof Keleti auf der Autobahn nach Wien als „das wird uns zu viel“, „das schaffen wir nicht“ erlebt wurde. Zugleich konnte bei Menschen die Angst auftauchen, dass uns zu wenig bleibt, wenn so viele Menschen „in den Sozialstaat“ einwandern, eine Angst, die bis heute Schwächere bedroht und die nicht durch Obergrenzen, sondern nur durch eine kompetente Migrationspolitik gezähmt werden kann. Eine solche Migrationspolitik macht erfahrbar, dass ein reiches Volk mehr schaffen kann als die alternativen Kassandrarufenden für möglich halten.

Diese sich ausbildende Urangst überlagert als Schicht das Urvertrauen im Grund des Menschen und verschüttet gleichsam den Zugang zu diesem. Es ist ein Vorgang, der sich in der Entwicklung jedes Menschen abspielt. Von dieser Urangst sind wir alle geprägt. Urangst haben wir alle.

Erbschuld, Erbunheil

Monika Renz ist auch promovierte Theologin. Sie spricht von einer Prägung jedes Menschen durch diese Urangst und assoziiert damit das katholische Deutungskonzept der Erbschuld. Monika Renz ersetzt den Begriff „Erbschuld“ durch Prägung. Damit bringt sie zum Ausdruck, dass diese Prägung der Freiheit und der Schuldfähigkeit des Menschen vorausliegt. In ähnlicher Weise deutet auch Eugen Drewermann die Genesis in tiefenpsychologischer Weise. Seine dreibändige Studie dazu trägt den Titel Strukturen des Bösen (Drewermann, Eugen: Strukturen des Bösen, 3 Bände, Paderborn 1977/78).

In all diesen anthropologischen Deutungsversuchen der intrauterinen Entwicklung des Menschenwesens zeigen sich ansatzhaft bereits die Folgen der tiefsitzenden Daseinsangst jedes Menschen. Ich nenne einige davon holzschnittartig:

  • Angst entsolidarisiert. Sie erzeugt eine Kultur der Rivalität.
  • Wo die Angst eine Person prägt, verteidigt sich diese gegen die eigene Angst durch Gewalt, Gier und Lüge. Ähnlich wirkt die Angst in der Politik: Sie verursacht gewaltsame Kriege, begünstigt im Wirtschaften unbegrenztes Wachstum und steigenden Konsum (Zygmunt Baumann: Die Angst vor den anderen, 2016) sowie im politischen Alltag Korruption.
  • Angst macht also böse.

In der Angst bestehen

Wie nun kann aber ein Mensch „in der Angst bestehen“? Das könne, so die Erfahrung vieler Verängstigter, nicht einfach dadurch geschehen, dass man von der Angst vollkommen geheilt wird, wenngleich das bewusste Erleben der Angst bei den einzelnen Menschen in Umfragen unterschiedlich ausfällt. Oftmals hat sich die Angst in die vorbewusste Welt der Träume zurückgezogen, ohne dadurch ihre dunkle Kraft einzubüßen.

Viel realistischer ist es, darüber nachzudenken, wie grundgeängstige Menschen lernen können, in der Angst zu bestehen. Wie das gelingen kann, erklärt Monika Renz im Rahmen ihrer letztlich grundoptimistischen Anthropologie, die im Untertitel ihres Buches „Angst verstehen“ festgehalten wird: „Tiefer als die Ur-Angst liegt das Ur-Vertrauen.“

In der Angst bestehen ist daher ein Lebenskunstwerk, das denen gelingt, die sich inmitten bedrängender Angst mit dem Urvertrauen am Existenzgrund verbinden können. Kommt das Urvertrauen inmitten der Ängste zum Fließen, wird es stärker als die Angst und öffnet einen Raum für Glaube, Liebe und Hoffnung. In einem solchen Kraftfeld wird es einem verängstigten Menschen möglich, in der Angst zu bestehen.

An dieser Stelle kann sich ein schöpferischer Dialog zwischen Tiefenpsychologie und Theologie entwickeln. Beide können einander inspirieren.

Religion

Ins Licht gesetzt wird die Kernaufgabe jeder Religion, Verbundenheit mit dem Grund allen Seins, das wir zögernd Gott nennen, aufzudecken und zu stärken. Das legen schon die Begriffserklärungen von Religion nahe. Das Wort stammt vom lateinischen re-ligere oder re-ligare und bedeutet soviel wie „rück-binden“. Der Mystiker aus New Mexiko, der Franziskaner Richard Rohr, sieht daher die edle Frucht aller Religion in der „connectedness“, oder als Vorgang begriffen von „One-ing“, Einswerden mit dem Grund, aus dem wir kommen. Für unsere Frage nach dem Bestehen in der Angst bedeutet dies: Rückgebundene verorten sich im Raum des Urvertrauens, das nicht nur tiefer, sondern stärker als die Urangst ist und in der Angst bestehen lässt.

Nicht Moral, sondern Mystik

Es war die Aufklärung, welche der Religion die Mystik amputierte. Übrig blieb die Moral. Moralisieren hilft aber nicht gegen die Angst, sondern deckt diese lediglich auf und verstärkt sie. Das beklagte bereits der Europaapostel Paulus in seinem Brief an die Römer, in dem er schrieb:

„Denn ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse… Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde… Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leib erretten?“ (Röm 7,15-24).

Es braucht somit einen Shift von einer angstgetriebenen moralisierenden zu einer hoffnungsschwangeren heilenden Seelsorge (Søren Kierkegaard u.a.). Dieser Shift wird aber nur gelingen, wenn die Religion ihre verlorene mystische Tiefe wiedergewinnt. Ziel der Religion ist es dann nicht, Gott rational zu begreifen. Solches Begreifen brächte uns lediglich in Gefahr, aus einem unpassenden Gott einen uns passenden Gott zu machen, um Johann B. Metz zu zitieren. Vielmehr geht es – bildlich gefasst – mystisch geformten Religionen darum, Gott nicht zu begreifen, sondern zu bewohnen bzw. Gott in der Tiefe unseres eigenen Lebenshauses aufzuspüren (Teresa von Avila: Moradas del Castillo Interior, 1577 – Wohnungen der Inneren Burg. Freiburg 42012). Die Zukunft gehört der mystischen Religion und mystisch erfahrenen Menschen. Solche Mystiker:innen sind GeHEIMnis-Bewohnerinnen, Menschen also, die im GeHEIMnis daHEIM sind: Im Geheimnis ihres Leben, das Gott heißt.

Um es noch einmal zu betonen: Kerngeschäft der Religion nicht die „Moral“. Richard Rohr formuliert darob treffsicher: „It is not necessary to be perfect, but to be connected.” (Rohr, Richard: The Universal Christ, London 2019).

Heilende Rituale

Im interdisziplinären Dialog erschließt sich nun nicht nur der Wesenskern und die Hauptaufgabe einer tauglichen Religion. Es eröffnet sich von hier aus auch ein praktischer Zugang zu den heilenden Ritualen.

Monika Renz findet zur Bedeutung der Rituale im Lebenshaushalt jedes Menschen auf dem Weg über eine Art tiefenpsychologischer Christologie. In ihrem Buch „Der Mystiker aus Nazaret“ (Freiburg 2016) nennt sie Jesus den Dauerverbundenen: und zwar mit seinem Grund, den er liebevoll Abba, Vater nennt. In dieser Verbundenheit mit dem Vater als Quell seines menschlichen Urvertrauens vermochte er zumal in der blutschweißtreibenden Leidenszeit am Ölberg und am Golgotha die Todesangst bestehen, in welcher er offenbar die Leiden aller Leidenden durchlitt. Diese Dauerverbundenheit des Mystikers aus Nazaret ist freilich etwas Außergewöhnliches und bringt die Ausnahmestellung des Menschen Jesus zum Ausdruck. Gerade diese außergewöhnliche Dauerverbundenheit macht ihn aber zugleich zum Symbol für die ständige Zugänglichkeit Gottes für alle Menschen und zugleich für die unbeirrbare Treue (Dtn 32,4) Gottes zu allen Menschen, zu seiner Schöpfung, für seine Leidenschaft für die Welt (Joel 2,18). Er ist deshalb in einer protagonistischen Weise „Sohn Gottes“.

Der Normalfall jedes Menschen aber ist, dass wir nicht Dauerverbundene sind. Wir müssen diese Verbundenheit mit dem Quell des Urvertrauens, die gläubige Menschen Gott nennen, stets neu suchen.

Dabei helfen eben die Rituale. Diese sind wie „Fahrzeuge“ durch die dunkle Urangst hindurch hinein in die sprudelnde Quelle des Vertrauens in der Tiefe allen Seins. Den Nichtdauerverbundenen helfen die Rituale durch ständige Wiederholungen connected, verbunden zu sein.

Wie kleine Sakramente

Neben den religiösen Ritualen gibt es noch weitere alltägliche Wege und Umwege zum heilenden Urvertrauen:

  • Wo immer menschliches Vertrauen wächst,
  • wo elterliche Menschen ein Kind Bindung erfahren lassen,
  • wo es einer gediegenen Bildung in allen Lebensstufen gelingt, irrationale Angst in rationale Furcht zu verwandeln;
  • wo immer jemand in Politik die Courage aufbringt, nicht der Versuchung einer Politik mit der Angst zu erliegen, sondern eine anspruchsvolle Politik des Vertrauens zu wagen:

immer dann gelangt Urvertrauen, in Spuren und Ahnungen wenigstens, ins menschliche Leben und Zusammenleben. Solche Erfahrungen von Urvertrauen inmitten des alltäglichen Lebens können theologisch mit gutem Grund als „kleine Sakramente des Vertrauens“ bezeichnet werden. Das Vertrauen in den nicht sinnenhaft zugänglichen Lebensgrund, den ich Gott nenne, scheint in der sinnenhaften Welt kraftvoll und wirkmächtig auf.

Nicht zuletzt gibt es, so wiederum der Franziskanermystiker Richard Rohr, zwei Verstecke Gottes in der Welt, Erfahrungsorte also, von denen geradewegs ein Weg zur Quelle des Urvertrauens führt: great love and great suffering, tiefe Liebe und unermessliches Leid.

Religionen brauchen selbst ständige Reformation

Ich habe in meinen bisherigen Nachdenklichkeiten zu einer Kultur des Vertrauens, die uns in der Angst bestehen lässt, ein Plädoyer abgegeben, die Rolle von mystisch starken Religionen und ihren heilenden Ritualen auch für das Leben von Zeitgenoss:innen zu würdigen und neu zu entdecken.

Allerdings mache ich ein solches Plädoyer mit einem theologisch bekümmerten Vorbehalt. Denn es gibt eine Gestalt von Religion, die nicht Hoffnung macht, nicht Knoten löst, nicht Lösungen herbeiführt, weder persönlich noch politisch, sondern die selbst Probleme verursacht und vorhandene Probleme verschärft. Es ist jene Gestalt der Religion, die sich aus trüben Eigeninteressen missbrauchen lässt für die Angst und deren Geißeln: also zur Legitimation kriegerischer Gewalt, ökologisch fataler ökonomistischer Gier sowie narzisstischer Lüge und Korruption. Gerade heute missbrauchen religiöse Fundamentalisten und politische Populisten Religion, und dies zum Schaden der Verängstigten und zum Schaden der demokratischen Freiheiten.

Keine Religion war und ist vor dieser fatalen Perversion ihrer Aufgabe gefeit. So gab es Zeiten, in denen jede der großen Weltreligionen (vielleicht mit Ausnahme der Bahais) Teil des Problems und nicht Teil der Lösung war; und diese Zeiten währen bis heute:

  • Das Christentum hat sich nach der Reformation im blutigen 30jährigen Krieg dazu hergegeben, das Morden in Europa mit Gott zu rechtfertigen. Das verursachte den Niedergang des Christentums in Europa bis auf den heutigen Tag. Die christlichen Konfessionen konnte den ersehnten Landfrieden nicht herbeiführen, sondern hatten selbst blutige Hände, was in den Fürbitten beim 500Jahre-Reformationsjubiläum ausdrücklich beklagt wurde. Voltaire suchte deshalb eine Religion ohne die Kirchen. Und die französischen Atheisten wähnten eine Welt ohne Gott am friedlichsten – was sich angesichts der Konzentrationslager und der GULAGs leider auch nicht bewahrheitete.
  • Der islamistische Staat wiederum pervertiert den Islam, der eine Religion des All-Erbarmers ist (Khorchide, Mouhanad: Islam ist Barmherzigkeit: Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg 2012). Jede Sure mit Ausnahme von einer beginnt mit dessen Anrufung. Solange sich die islamische Welt nicht von der Gewalt und dem Terror im Namen Allahs distanziert, steht es schlecht um die Zukunft dieser im Grund friedliebenden Religion. Der Kampfruf „Allahu Akbar“ (Gott ist groß) verkommt dann zum Grabesgesang Allahs.
  • Und der russische Patriarch Kyrill I., der für seine Russisch-Orthodoxe Kirche 1991 durch die Selbständigkeit der Ukraine kanonisches Territorium mit 42 Millionen Mitgliedern der Kirche verloren hat und sich nach einer Vernichtung der Ukraine Hoffnung macht, dieses wiederzugewinnen, unterstützt wohl auch deshalb den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands. Auch hofft er, auf diese Weise das Gründungskloster der ROC, das Höhlenkloster Lawra zurückzuerhalten, das im Herzen von Kiew liegt. In diesem Kloster fand am 28.7.922 die Taufe der Rus statt, womit sich das Christentum unter dem Großfürsten Wladimir etablierte.

Damit also heilsame, weil und insofern Urvertrauen freilegende Religionen nicht pervertiert werden und damit Gott nicht in Misskredit, sondern in Kredit bringen, brauchen alle Religionen eine tiefgreifende Reformation aus ihren eigenen Quellen. Dann und erst dann können sie zu einer heilsamen Hoffnungsressource in unserer taumelnden Welt werden: für die einzelnen angstbedrängten Menschen sowie für die Völker der Erde und die eine, von Gott geschaffene und tief verwundete Natur.

Ich schließe mit einem Zitat aus jenem interreligiösen und internationalen Aufruf, den Annette Schavan, Tomas Halik und ich im Jahre 2022 veröffentlicht haben (https://info.zulehner.org/site/projekte/religionenhoffnungfuerein) und mit dem dieser Aufruf schließt:
„(Erneuerte) Religionen schüren die Hoffnung, dass die gegenwärtigen Herausforderungen, welche die Welt taumeln machen, nicht der Todeskampf der Erde und der Menschheit sind, sondern Geburtswehen einer Welt, in der Völker in Gerechtigkeit und Frieden in Harmonie mit der Natur leben.“

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3 Antworten zu „The only thing we have to fear, is fear itself.“

  1. brandhildegard schreibt:

    Das ist ein so erhellender, die Seele und Welten und deren Komplexität umfassender Beitrag mit den Bezügen zu so guten Autoren, den historischen Bezügen, politischen Anstrengungen und gescheiterten Versuchen dabei , zu Begründungen von Religionen und möglichen „Gottesdeutungen“ bei alledem, dass kaum etwas hinzuzufügen ist, außer vielleicht weiteren Fragen und
    auch Sprach-losigkeiten angesichts der so „dunklen Seiten“ des „menschlichen Wesens“ und dessen Entwicklungen im Laufe der „Menschheitsgeschichte“ , die uns – auch in der Jetztzeit – immer wieder durch Leib und Seele hindurch erschüttern –
    allerdings diejenigen um ein Vielfaches stärker,
    welche z.B. durch direkte u n d strukturelle Gewalt unmittelbar an Leib und Seelen leiden, aber auch diejenigen, die aus der Ferne mit-leiden und sich gerade aus der Außenperspektive heraus ohn-mächtig dazu fühlen, das Leid zu verhindern oder dem vorzubeugen..
    .Später dazu vielleicht mehr mit meinen ergänzenden Fragen und Nachdenklichkeiten … Danke vorerst, lieber Paul M. Zulehner, für diese so umfassende „Meditation“ …!

  2. Karin Walter schreibt:

    Sehr geehrter Herr Prof. Zulehner ! Vielen Dank für die so klare und aufrüttelnde Botschaft an die taumelnde Welt. Ich möchte zum Wohnen im GeHEIMnis der Verbundenheit mit dem was wir zögernd Gott nennen, noch die Verbundenheit mit der ganzen Schöpfung, mit allem Sein, dazulegen. Jede Religion sollte ihre tiefste Aufgabe darin sehen, diese Verbundenheit zu fördern und ihr zu dienen. Einen gesegneten ALLERseelentag Karin Walter

  3. Karin Walter schreibt:

    Sehr geehrter Herr Prof. Zulehner ! Vielen Dank für die so klare und aufrüttelnde Botschaft an die taumelnde Welt. Ich möchte zum Wohnen im GeHEIMnis der Verbundenheit mit dem was wir zögernd Gott nennen, noch die Verbundenheit mit der ganzen Schöpfung, mit allem Sein, dazulegen. Jede Religion sollte ihre tiefste Aufgabe darin sehen, diese Verbundenheit zu fördern und ihr zu dienen. Einen gesegneten ALLERseelentag Karin Walter

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