Lebenskultur als ob es Gott nicht gäbe

Gedanken für den Tag (Ö1, 14.4.2015):
Lebenskultur als ob es Gott nicht gäbe

Der marxistische Soziologe Henri Lefebvre ist Atheist. Als solcher glaubt er Gott weg. Er rechnet damit, dass mit dem Tod alles aus ist. Wie er als Atheist die Spannung zwischen maßloser Sehnsucht und stets nur mäßiger Erfüllung meistert, hat er unter dem Titel „La critique de la vie quotidienne“, Kritik des Alltagslebens, veröffentlicht.

Eingestreut in unseren Alltag, so Lefebvre, finden sich „moments“, Mom
ente, Lebensfeste. Vier nennt er: Liebe, gute Arbeit, Erkennen und das Spiel. Typisch für diese sei, dass sie uns Raum und Zeit vergessen machen. Sie sind gelebte Sehnsucht pur. Von ihnen lässt Goethe Faust sagen: „Verweile doch, du bist so schön!“ Ähnlich der Kernkreis der Jünger Jesu auf dem Berg der Verklärung: „Lass uns hier drei Hütten bauen…“

Gern möchten wir in den „moments“ verweilen. Aber, so Lefebvre lebenserfahren, die Momente „scheitern“. Wir müssen vom Berg der Verklärung in den Alltag zurück. Die Feste der Liebe enden ebenso wie gutes Erkennen oder das Spiel. Das nimmt aber den Lebensfesten nicht ihre Bedeutung. Denn wir erinnern uns an sie zurück. Und fangen im Erinnern an zu wünschen, dass es morgen wieder ein Fest geben möge. Diese Sehnsucht nach neuerlichen Festen lässt uns den Alltag bestehen, lässt uns leben. Das désir, das maßlose Sehnen, hat einen Sinn. Auch wenn es nur in eingestreuten Momenten Erfüllung findet.

In Ernest Hemingways Roman „Wem die Stunde schlägt“ lehrt eine einfache Frau aus dem Volk den unerfahrenen Soldaten Robert Jordan, der ihre Tochter Maria liebt: „Nur dreimal im Leben wackelt die Erde.“ Leben, so ihr weiser Rat, ist nie ein Dauererdbeben der Sehnsucht, sondern Alltag. Hoffentlich versöhnter Alltag wünscht der lebenserfahrene Atheist Lefebvre: Denn nur in einem solchen können uns Feste zufallen.

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Eine Antwort zu Lebenskultur als ob es Gott nicht gäbe

  1. Maga Christine Tidl schreibt:

    Gibt es einen versöhnten Alltag angesichts der Gewaltexzesse der IS-Miliz, angesichts der Flüchtlingstragödien vor der Haustüre Europas? Kann es überhaupt einen versöhnte Alltag ohne Gott geben? Lefebvres Alltag ist noch nicht der Internethektik unserer Tage unterworfen, auch nicht der allgegenwärtigen Bedrohung und Verführung, die in den Möglichkeiten dieses Mediums liegen. Liebe und Spiel sind zu Konsumgütern geworden, kaum mehr gelebte Sehnsucht, sondern Sucht. Von der wir nicht lassen können, weil wir fürchten, ins Bodenlose zu fallen, wenn körperliche Attraktivität zu Ende geht. Wir haben nicht Zeit für Sehnsucht, sondern fürchten, etwas von dem ungeheuren Angebot, das uns täglich ins Haus geliefert wird, zu versäumen. Wir sind stumpf geworden in unseren Empfindungen, weil uns der Wert der Seltenheit abhanden gekommen ist.
    Die Erfüllung in der Arbeit wird jenen nicht mehr zuteil, die nicht kreativ genug sind, Arbeit zu erfinden, die Leben ermöglicht, denn Menschen werden wegrationalisiert, ersetzt durch Computer. Das materielle Streben ersetzt die Sehnsucht.
    Unsere Kinder werden in Kinderkrippen, Kindergärten und Horts mehr oder weniger sich selbst und unsteuerbaren Einflüssen überlassen. Wir gestalten auch hier nicht mehr mit. Wir stopfen „Glücksmomente“ (Computerspiele) in sie hinein und überlassen sie diesen virtuellen Welten. Überlassen sie der Sucht und der Unmäßigkeit. Wonach sollten sie Sehnsucht haben, wenn wir es nicht mehr schaffen, sie diese fühlen und erleben zu lassen, weil wir uns selbst weder nach unsere Mitmenschen noch nach Gott sehnen.
    Wir glauben nur noch, was uns die Medien zu glauben vorgeben. Persönliches Engagement für Materielle Güter ist gefragt, persönliches Engagement für höhere Werte, die jene Glücksmomente eines versöhnten Alltags erzeugen könnten, ist mühsam. Zu mühsam. Auch die Erinnerungen können uns nicht versöhnen, weil sie durch unser Konsumverhalten schal geworden sind.
    Ich sehe keinen versöhnten Alltag im marxistischen Gedankengut.

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