„Der Herr möge euch vergeben, was ihr mir angetan habt!“

Zur Seligsprechung des 33-Tages-Papstes Johannes Paul I.

(1912-1978)

„Der Herr möge euch vergeben, was ihr mir angetan habt!“ So soll Albino Luciani nach der Wahl zum Papst zu den Kardinälen gesagt haben. Ich war damals in Passau tätig und hatte die Nachricht auf einer Vortragsreise nach Augsburg gehört. Schnell war er als Nachfolger von Paul VI. gewählt worden, angeblich mit 99 von 110 Stimmen.

Ein Konzilspapst

Es war nicht der erste Papst, den ich erlebt habe. Als Kind machte der gestrenge Pius XII. großen Eindruck. Während meines Theologiestudiums war ich von Johannes XXIII. begeistert. Dann kam noch während des Konzils Paul VI., an den sich viele zu Unrecht nur wegen seiner „Pillenenzyklika“ Humanae vitae (1968) erinnern. Und nun folgte ihm der Bergbauernsohn aus dem Veneto. Sein Name wird als Verneigung vor Johannes XIII. (er machte ihn zum Bischof im norditalienischen Vittorio Veneto) und Paul VI. (unter dieser wurde er Kardinal) gedeutet. Der neue Papst wollte offenbar das Erbe beider weiterführen. Ich war gespannt. Aber noch bevor er eine Antrittsenzyklika schreiben konnte, starb er nach 33 Tagen im Amt. Ob er deshalb schon die Nummer „I.“ hinzugefügt hat? Papst Franziskus hat dies nicht gemacht.

Gerüchte um seinen überraschenden Tod

Die Weltöffentlichkeit hatte den lächelnden Papst liebgewonnen. Daher löste sein Tod weit über die katholische Kirche hinaus große Trauer aus. Zugleich begannen sich um seinen Tod viele Gerüchte zu ranken. David Yallop scheffelte mit seinem Papstkrimi Millionen. Gegenbücher wurden geschrieben. Die Informationspolitik über das Ableben des Papstes unter dem französischen Kardinal Jean Villot war freilich keine mediale Meisterleistung gewesen. Dieser Tage hat Stefanie Falasca, Vizeanwältin im Seligsprechungsprozess, mit einer gründlichen Bewertung aller vorliegenden Unterlagen versucht, einen Schlusspunkt unter die Verschwörungstheorien zu setzen („Papa Luciano – Chronik eines Todes“, 2022).

Überschaubares Textmaterial

Die Seligsprechung war für mich ein guter Anlass, mich in diesen Papst einzulesen. Die gedruckten Unterlagen, die auf der offiziellen Vatikan-Homepage dokumentiert sind, sind überschaubar: 5 Ansprachen; 9 Apostolische Schreiben, 3 Audienzen, 4 Botschaften, 3 Schreiben und 4 Homilien. Dazu kommen Publikationen, die zeigen, warum er gern Journalist geworden wäre: seine Briefe an bekannte Persönlichkeiten (wie Mark Twain oder auch Pinocchio), vor allem aber die Katechesen über die drei göttlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung. Die drei Sterne in seinem Wappen erinnern an sie. Sie prägten sein Leben. Auch hatte er in den Generalaudienzen den Anwesenden diese drei Tugenden nahegelegt: die Liebe noch einen Tag vor seinem Herztod.

Er machte als Papst, was er am besten beherrschte und was er auch im Priesterseminar unterrichtet hatte: Er warb für das Evangelium, oder wie er es in seinem „Brief an Jesus“ formulierte: „Ich möchte, dass viele Menschen dir nachfolgen und dich lieben“.

So kurz sein Pontifikat war, so sehr stellte es einige Weichen:

Ein neuer Papsttypus

Johannes Paul I. hat dem Papstamt eine neue Gestalt gegeben. Vieles von dem, was wir dann später an Papst Franziskus bewundern, hat er bereits praktiziert, ohne dass daraus wie bei Franziskus ein medialer Hype entstanden wäre: Schon als Bischof wohnte er nicht in der Burgresidenz des Bischofs von Vittorio Veneto, sondern bezog eine Wohnung im Priesterseminar. Als Patriarch verzichtete er auf die prunkvolle Gondel. Er ließ sich als Papst nicht mit der Dreifachkrone, der Tiara, krönen. Auch wollte er nicht in der Gesta sedatoria getragen werden, wobei er nachgab, als man ihm sagte, dass man ihn, den kleinen Mann, besser sehen könnten. Er mied das majestätische „Wir“; trug auch als Patriarch von Venedig seine Bergbauernschuhe, schaffte den Kniefall der Schweizer Gardisten ab. Er entfeudalisierte das Bischofs- wie das Papstamt.

Merkmale seiner Persönlichkeit waren Demut (humilitas war sein Wahlspruch als Bischof), Einfachheit und Anspruchslosigkeit. Er konnte gut zuhören, verurteilte nicht. Er riet seinem Nachbarsbischofskollegen von Udine, Alfredo Battisti, den ermordeten Pier Paolo Pasolini kirchlich beerdigen zu lassen. Sein Argument zeugt von gläubiger Weisheit: „Überlassen wir seine Lebensführung dem Urteil des Herrn. Wir alle, ohne Ausnahme, brauchen Seine Barmherzigkeit. Seine künstlerischen Werke jedoch, sagte er, sprachen für ihn, und andererseits habe er in Friaul als junger Mann an der christlichen Praxis festgehalten, und es sei richtig, da er jetzt in seine Heimat, die Kirche, zurückkehre würde, ihn mit einem christlichen Begräbnis willkommen zu heißen“.

Sein Markenzeichen waren sein Lächeln und seine Zärtlichkeit. Damit hat er buchstäblich die Welt gewonnen. „Il soriso di Dio“, das Lächeln Gottes, dessen zärtliches Erbarmen spiegelte er wider. So konnte er am 10.9.1978 im Angelus Gott stimmig sagen: „È papà: piu ancora è madre!“ (Er ist Vater: noch mehr aber Mutter). Einer seiner Schüler, Kardinal Beniamino Stella, charakterisierte sein kurzes Pontifikat bei der Pressekonferenz zur Seligsprechung mit folgenden Worten: „Er steht für eine demütige, fleißige und heitere Kirche, die darauf bedacht ist, dem Herrn zu folgen.“ Zärtlichkeit taucht auch bei Papst Franziskus häufig auf.

Ein Freund des Zweiten Vatikanums

Johannes Paul I. stand fest auf dem Boden des Zweiten Vatikanischen Konzils, an dem er als einer der 2498 Konzilsväter selbst teilgenommen hatte. Den Kardinälen erklärte er bald nach der Wahl, dass er entschlossen sei, dieses tatkräftig fortzuführen. Dazu kündigte er als Schwerpunkte seines Pontifikats Evangelisierung, Mission, Kollegialität, Einsatz für eine arme Kirche und für die Einheit der Christen an.

In der Armen sah er wie einst der Diakon Stephanus „den wahren Schatz der Kirche“, so bei seiner Predigt zur Einführung als Bischof von Rom im Lateran am 23. September 1978. Sein Einsatz für eine arme Kirche war zugleich politisch. Das hatte er bereits in seiner Familie gelernt. Sein Vater war sozialistischer Arbeiter. Deshalb lag ihm als Patriarchen von Venedig das Schicksal der Arbeiter am Herzen. Arme klopften nie vergeblich an das Tor des Amtssitzes des Patriarchen von Venedig. Als in einer Fabrik im Venezianischen Stadtteil Marghera wegen der damaligen Wirtschaftskrise viele Arbeiter entlassen werden sollten, setzte er sich für sie ein. Er richtete einen kirchlichen Hilfsfonds ein, als sie dennoch entlassen wurden. So fromm er war: er war auch politisch. Als Hitler Mussolini traf, kommentierte er scharfsinnig: „Siòn ente man de doi matt. Wir sind in den Händen von zwei Verrückten“: so berichtete seine Lieblingsnichte Lina Petri bei der Pressekonferenz zur Seligsprechung. Er versteckte Juden. Und warb, als sich die Präsidenten Carter, Sadat und Begin in Camp David trafen, um Frieden im Namen Osten.

Dem Diplomatischen Corps schrieb er beim Erstempfang in Stammbuch – ein Text, der in unseren Tagen höchste Aktualität genießt: „Wir besitzen für die großen Weltprobleme gewiss keine Wunderlösungen, aber wir können einen sehr wertvollen Beitrag leisten: einen Geist, der hilft, die Probleme zu entwirren und in den entscheidenden Zusammenhang zu stellen, nämlich die Liebe aller zu allen und die Öffnung für die transzendenten Werte, das heißt die Öffnung zu Gott hin. Wir werden versuchen, diesen Dienst in einer einfachen, klaren und unbefangenen Sprache zu leisten.“ (Ansprache an die Repräsentanten der Staaten und internationalen Organisationen am 4. September 1978)

Ein wahrhafter Pontifex: Brückenbauer

Johannes Paul I. baute, wo er konnte, Brücken, in der Weltpolitik, aber auch innerkirchlich. Schon auf dem Konzil erlebte er die Spannungen zwischen den Traditionalisten und jenen, welche die Fenster der Kirche zur modernen Welt öffnen wollten. Diese Polarisierung endete nicht mit dem Konzil. Anlässlich der Enzyklika Humanae vitae verschärfte sie sich noch bis tief ins Kirchenvolk hinein. 1969 von Paul VI. zum Patriarchen von Venedig ernannt, hielt er diesem hinsichtlich der heftig umstrittenen Enzyklika loyal die Stange. Aber er blieb zugleich Seelsorger. Er hatte über den von den Jesuiten in Rom bekämpften Theologen Antonio Rosmini an der Gregoriana promoviert, was ihn vor fundamentalistischen Positionen bewahrte: Dessen Werke über die kirchliche Reform (Die fünf Wundmale der heiligen Kirche) und eine Verfassung für den Kirchenstaat waren 1849 auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt worden.

Johannes Paul I. vermochte zu unterscheiden zwischen dem verbindlichen Hinhorchen auf das Lehramt und der unausweichlichen Macht konkreter Lebensumstände. Das führte zumindest dazu, dass er seelsorglich niemanden verurteilte: auch nicht jene, welche mit dem Pillenverbot nicht leben konnten. Er stellte sich damit in die Reihe jener Bischofskonferenzen, welche den Menschen nach der Veröffentlichung von Humanae vitae rieten, den Text zwar gewissenhaft zu lesen, dann aber in ihrer jeweiligen Lage ihrem Gewissen zu folgen.[1] Papst Franziskus bezog später in Amoris laetitia dieselbe Position:“ Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen.“ (AL 37)

Der Papstkrimiautor Daniel Yallop schien hingegen zu wissen, dass Papst Johannes Paul I. den Widerruf der Enzyklika Humanae vitae plante. Das habe seine innerkirchlichen Gegner veranlasst, ihn zusammen mit der Freimaurergeheimloge P2 und dem Netzwerk der inzwischen auf neue Beine gestellten Vatikanbank um Bischof Paul Casimir Marcinkus zu vergiften.

„Das größte aber ist die Liebe“ (1 Kor 13,13)

Den deutschsprachigen Besuchern der letzten Generalaudienz vom 27.9.1978, einen Tag vor seinem Tod, erzählte Johannes Paul I. von einem Gebet, das ihn seine Mutter gelehrt hatte. Dieses Gebet bitte Gott um immer mehr Liebe zu ihm. Er bete es noch heute jeden Tag, sagte Johannes Paul I.: „Ja, mit ganzem Herzen lieben – das ist die einzige Stelle, wo der Mensch streng sein darf und soll, in der Liebe zu Gott.“

Hier ist der Ton von Johannes Paul I. der (übrigens einzigen deutschsprachigen) Ansprache aus einer Aufnahme aus dem Archiv des Radio Vatican[2]:



[1] Siehe Königsteiner (deutsche Bischofskonferenz) und Maria-Troster-Erklärung (der österreichischen Bischofskonferenz).

[2] (https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2018-09/selten-tondokument-johannes-paul-luciani-gedenken.html )

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8 Antworten zu „Der Herr möge euch vergeben, was ihr mir angetan habt!“

  1. phb schreibt:

    This is awesome and well thought and written and researched! The German Audio incredible: How he struggles with his reading from the Paper! Great work! Thank you sharing this! Have left The Church / am Free Like A Bird. Best yours Peter

    • Joseph schreibt:

      Peter !
      komm zurück!
      Wenn Dich so ein Text so erfassen kann, wieviel mehr muss Dich dann Jesus selbst bewegen, er spricht zu uns im Neuen Testament !

      • Irmgard schreibt:

        Peter schreibt
        , daß er die Kirche verlassen en habe. Er schreibt nicht, daß er Jesus verlassen habe.
        Danke, P. Zulehner, für diesen klugen und herzlichen Text.

    • Ulrike Brustmann-Sieber schreibt:

      Dear Mr. Peter ! Free like a bird ? Really ? And what kind of freedom: – free of something – or free to live (e.g. to the fullest) ???? By the way: What do you think, what „THE“ church might be, so it seems to be nessecary to leace it ??? Strictly speaking, THE church is the community of the baptized. So I have to disappoint you: Its not possible to leave the community of the baptized. Why ?…Because God irrevocably gives his promise (e.g. in the babtism) and does not take it back. Hmmmmmm. Well………

      • phb schreibt:

        Good to know, as I am baptised! For sure! Free here in this context means free from any institution which acts beyond my core beliefs.

  2. Ulrike Brustmann-Sieber schreibt:

    Eine ausgezeichnete Beschreibung des neuen Seligen. Übrigens ein ausgesprochen sympathischer Seliger. (Phänomenal das Audio mit der Originalstimme – urlieb der Akzent)

  3. Brand, Hildegard schreibt:

    … welch ein Lichtblick in stark verschatteten, gar finsteren Zeiten – auch beim Blick in die freigelegten Abgründe unter altehrwürdigen „Räumen“ der kath. Kirche!

    Ich nehme an,: die wenigsten wussten um diese so beeindruckenden Seiten dieser sympathischen Pontifex-Persönlichkeit; ich auch nicht…
    Schön, dass Sie uns diese so einmalige Persönlichkeit in diesem Beitrag so nahe gebracht haben! Gar nicht auszudenken, welche Konsequenzen das „Gottesbild“ mit „Vater u n d Mutter“ für uns Frauen ( aber auch für das gesamte Kirchenvolk) , für die Theologie, das Kirchenrecht, die Liturgie, die Pädagogik und die gesamte Kirchenstruktur gehabt haben könnte, hätte Mann es ernst genommen!

    Und – zur „Freiheit eines Vogels“ ( zu Peter) :
    Wie gut, dass jeder Mensch , nicht erst seit „Festschreibung“ von „Freiheits-/ Menschenrechten“ ,
    die Freiheit hat, sich frei wie ein Vogel zu fühlen! ( solange es noch Vögel gibt, von denen wir das Fliegen lernen könnten. ) …

  4. Johanna Spoeth schreibt:

    Danke, lieber Professor, für diese ausführliche und „erleuchtende „ Recherche, wie sehr gewinnt da der 22 Tage Papst an Kontur und Sympathie! Ein großes Lob an Ihren Eifer und Interesse!

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