Lidiya Marakovska aus Lviv setzt ihr Tagebuch fort.
Dieser Beitrag schließt an den BLOG-Eintrag „Warten auf den Zug“ an.
Irgendwann gegen Mitternacht rief die Frau vom Bahnsteig und kündigte die Ankunft des Zuges an. Ich gab den Jungs die Decke zurück und sie boten an, meinen Koffer zum Zug zu bringen. Ich weckte das Kind, nahm auf den Arm und trug es zur Plattform.
Es gab noch keinen Zug auf dem Bahnsteig, der Junge rannte zurück in den Tunnel, und ich stellte meinen Sohn auf die Beine und wollte die Decke zusammenfalten. Aus irgendeinem Grund begann mein Sohn im Dunkeln auf das Gleis zuzugehen, auf dem irgendein Zug stand, ich fing es am Rande des Bahnsteigs auf. Er wollte schon in den Zug steigen, weil ihm schon wieder sehr kalt war und seine Augen vor Müdigkeit zufielen. Ich wickelte ihn in eine Decke und meinen Schal ein, und wir warteten wieder. Der Zug kam an, viele Leute kamen von irgendwoher. Alle, die mit Tickets auf den Zug warteten, verstanden nicht, was da los war. Als sich die Tür öffnete, beeilten sich alle, sich hinzusetzen, und stießen sich gegenseitig. Wir wurden einfach mit der Menge zur Zugtür getragen, niemand sah, dass da ein kleines Kind war. Als sie anfingen, so stark zu drücken, dass ich nicht auf meinen Füßen stehen und das Kind halten konnte, fing ich mit aller Kraft an zu schreien, dass ein Kind hier sei. Ein Mann drehte sich um und ließ uns vor ihn gehen, und so wir gingen weiter.
Als wir an der Zugtreppe ankamen, versuchte ich, meinen Sohn hochzuheben, um in den Zug einzusteigen, er konnte nicht selbst vom Bahnsteig zur Treppe gelangen, und dann fingen sie wieder an zu drängen. Ich schrie wieder, um zu verhindern, dass er unter die Räder des Zuges fällt, die Treppe ist wie eine Leiter, und er konnte nicht hinaufklettern, und ich konnte ihn nicht vor dem Druck der Menschen bewahren. Der Mann hinter mir hat wieder geholfen, ich habe das Kind in den Zug gesetzt und stieg selber ein, jemand hat geholfen, den Koffer nach oben bringen.
Wir machten uns auf den Weg zu unserem Abteil, was fast unmöglich war, weil schon überall Menschen waren. Als wir doch dort ankamen und die Tür öffneten, waren dort statt eines leeren Abteils 3 Frauen und ein kleines zweijähriges Mädchen. Zuerst dachte ich, ich hätte mich geirrt, aber nachdem ich die Tickets überprüft hatte, stellte ich fest, dass kein Fehler vorlag. Ich fragte, ob sie Tickets hätten, aber sie lachten nur ironisch, weil sie vor dem Krieg in Kiew flohen und selbst wenn sie ein Ticket kaufen wollten, würden sie es nicht kaufen können. Ein Kloß in meinem Hals ließ mich nicht sprechen… wie kann das sein? Die Leute laufen einfach vor Bomben überall hin weg, nur um das Wertvollste zu retten – das Leben…
Ich stopfte meinen Koffer in das Abteil, was alle störte, aber alle schwiegen und fragten, wo ich mit dem Kind sitzen könne. Alle saßen auf der untersten Bank, wir dachte darüber nach, wie wir alle unterbringen könnten. Ganz unten legte sich ein kleines Mädchen mit seiner Mutter auf dem zweiten Bett zu einer anderen Frau, zu der noch ein Mädchen vom Korridor kam und wir beide bezogen das oberste Bett unter dem Dach. Noch ein Mädchen lag auf dem Boden und auf einem kleinen Tisch lag in einem Korb eine Katze, die sehr unzufrieden knurrte, was meinen Sohn glücklich machte. Die Freude der Kinder in schwierigen Momenten des Lebens ist einfach unschätzbar. Sie freuen sich einfach, wenn sie Freude empfinden, und weinen, wenn sie sich schlecht fühlen, und es ist schön, es ist ein Licht, das auch in Kriegszeiten wieder zum Leben erweckt.
(Fortsetzung folgt morgen)
***
Wer die drei Unkrainerinnen Lidiya, Kateryna und Lyudmyla für deren Hilfsprojekte und ihre Familien in den kommenden harten Zeiten unterstützen will –
Hier ist mein spezielles Hilfskonto: Paul M. Zulehner, ERSTEBANK AT69 2011 1283 6762 6709 (GIBAATWWXXX), Stichwort Lviv. – Und ich danke im Namen der drei Ukrainerinnen allen, die schon großzügig ihr Herz und ihre Geldbörse geöffnet haben.
