Eine Kurzfassung der Gedanken erschien in der SALZBURGER NACHRICHTEN vom 29.8.2017 als Interview mit Josef Bruckmoser
Warum ich mich zur Wahl zu Wort melde, illustriere ich mit einer einfachen Begebenheit, wie ich sie in den letzten Monaten wiederholt von unterschiedlichen Menschen erlebt habe. Ein bald 80jähriger Pfarrer sagte mir auf die Frage, wen er im Herbst wählen werde: „Es ist wohl das erste Mal in meinem Leben, dass ich nicht ÖVP wählen werde.“ Viele engagierte Christinnen und Christen hatten ihre politische Heimat in der christlich-sozialen ÖVP, verschweige aber nicht, dass es andere Kirchenmitglieder anders erleben. Ich erlebe aber auch Christinnen und christlich mit einer anderen parteipolitischen Präferenz Ratlosigkeit
Nun aber irritiert sie die politische Praxis vieler Parteien zumal in der Flüchtlingsfrage. Und generell stört sie der Hang zu populistischen Täuschungen der Bevölkerung, in welchen für komplexe Herausforderungen/Probleme einfache Scheinlösungen vorgegaukelt werden. Hans Rosling, kürzlich verstorbener schwedischer Wissenschaftsentertainer, warnt die Politik wie die Medien eindringlich, dem Hang zum Generalisieren von Einzelfällen zu erliegen.
Ich versuche hier, ein paar Positionen zu umschreiben, die für nicht wenige meiner christlichen Glaubensschwestern und Glaubensbrüder wichtig sind: Dabei meinen nur wenige von uns Christinnen und Christen, dass sich aus dem Evangelium unmittelbar die alltägliche Politik ableiten lässt. Zugleich sind sie aber der festen Überzeugung, dass das Evangelium eine Art Grundorientierung für die Politik abgibt. Sie verstehen durchaus, dass es in der realen Politik immer nur Schritte in jene Richtung gibt, in welche das Evangelium weist. Aber wenn die Richtung erkennbar nicht mehr stimmt, werden nicht wenige Christinnen und Christen rat- und nach und nach politisch heimatlos: wie eben der eingangs erwähnte ältere Pfarrer, dazu aber Engagierte in nicht wenige Pfarrgemeinden und unter Ordensleuten, die sich für Flüchtlinge einsetzen.
Hier ein paar Orientierungen für eine am Evangelium ausgerichtete Politik, wobei Grundsätzliches formuliert und anschließend Konkretes riskiert wird. Zudem gilt, was hier gesagt wird, nicht nur für traditionell ÖVP-treue ChristInnen, sondern für solche in allen politischen Parteien und Bewegungen.
Orientierungen
- Christen sind ihrem Glauben gemäß Universalisten. Weil es nur einen Gott gibt, gibt es auch nur eine einzige Menschheit. Oder ökologisch sowie ökumenisch im Konzert aller Religionen der Welt: ein einziges Welthaus für diese eine Menschheit.
- Ein ausgrenzender Nationalismus, der nicht mit einem auf Grund historischer Erfahrungen geläutertem Heimatgefühl zu verwechseln ist, widerspricht zutiefst diesem christlichen Wissen um die Einheit der Welt und der Menschheit. Genau dafür versteht sich die Kirche als Zeichen (weil sie selbst weltkirchlich lebt) und zugleich als Anschubhilfe, Ferment.
- Der Anspruch auf universelle Solidarität ist für das Christentum prinzipiell nicht verhandelbar. Wenn unzählige Kinder verhungern, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken, dann sind das Kinder unseres Gottes, für deren Tod dieser – wie biblisch berichtet von Kain – von uns Rechenschaft verlangt. Christen stehen für mehr Gerechtigkeit in der Einen Welt. Aufrechte Christinnen und Christen betrachten das Teilen der knappen Güter der Welt nicht als herablassende „Gnade“, sondern es ist für sie recht und billig.
Variationen
- Natürlich lassen sich aus diesen Grundorientierungen nicht direkt die alltagspraktischen Maßnahmen ableiten. Aber es wird möglich, das Bessere von weniger Gutem klar zu unterscheiden. Ich riskiere ein paar Beispiele:
- Es ist immer besser (und auch langfristig wie staatspolitisch vernünftig), an der Abmilderung der Fluchtursachen zu arbeiten als nur Symptome zu bekämpfen. Dazu gehören beispielsweise die Waffenexporte sowie der Wirtschaftsimperialismus Europas. Es verschlechtert die wirtschaftliche Situation afrikanischer Länder massiv, wenn Europa seine Agrarprodukte subventioniert und billig auf die afrikanischen Märkte wirft und auf diese Weise die Lebensgrundlage der hoffnungsarmen Bevölkerung mancher afrikanischen Regionen zerstört. Eine christlich inspirierte Flüchtlingspolitik steht und fällt daher mit der Frage nach der wirtschaftlichen Entwicklung der an hoffnungsloser Armut leidenden Weltregionen (wobei ein Marshallplan für Afrika auch für Europa ganz wichtig sein wird). Sie hat mit der Beendigung von kriegerischen Konflikten zu tun und nicht zuletzt mit der Klimapolitik. Auch wenn es die Pflicht der Politik ist, die Illegalität der Wanderbewegung einzudämmen, wäre es für Christen hilfreich zu erkennen, dass unsere österreichische Politik international Verantwortung übernimmt und nicht sich national abschließt. Ein Instrument dafür sind humanitäre Korridore für jene, die einen Rechtsanspruch auf Asyl haben. Durch das Stoppen (es sollte zum Unwort des Jahres werden) von Menschen auf gleich welcher der Routen des Globalen Marsches (Club of Rome, 1991), die vor Hoffnungslosigkeit und Krieg flüchten, ist längerfristig keines der wahren Probleme gelöst.
- Die Einung Europas darf nicht populistisch kurzsichtigem Gewinn von Wählerstimmen geopfert werden. Zu Recht fordert daher Papst Franziskus als Mann der Ausrichtung am Evangelium in Europa mehr Solidarität ein. Der Nationalismus hat schon mehrmals die Welt in den Krieg getrieben. Mit Christen und Christinnen ist mehrheitlich mehr Europa möglich.
- Solidarität ist unteilbar. Das gilt auch innerhalb unseres Landes für die anstehenden Integrationsbemühungen: Man kann nicht in der Wohnbaupolitik oder beim Zugang zum Arbeitsmarkt die eingesessenen ÖsterreicherInnen gegen die dank eines Asylbescheids neuangekommenen Menschen ausspielen. Zudem braucht die Herausforderung der Integration viele Menschen guten Willens und eine Art neue „Willkommenskultur“. Deren mutwillige Beschädigung durch die Politik hat viele Kirchenmitglieder sehr irritiert, weil im Grunde genommen die Willkommenskultur das Anliegen des Umgangs mit den Fremden sowohl im Alten wie im Neuen Testament zum Ausdruck bringt.
- Vielen engagierten Christinnen und Christen (die wie die Engagierten aus den NGOs deutlicher Dank verdienen, aber verfolgt sein sollen, wenn sie kriminelle Akte setzen) widerstrebt zutiefst, dass in einem der reichsten Länder der Erde die Mindestsicherung für Schutzsuchende gekürzt wird, weil diese den Sozialstaat gefährde: zugleich aber können nicht wenige Reiche (Personen und Organisationen/Konzerne) weithin „legal“ den Sozialstaat schwächen, indem sie unbehindert ihre Gewinne unversteuert in Steueroasen transferieren können. Es geht nicht länger an, dass der redlich arbeitenden Bevölkerung der Beitrag zum Sozialstaat vom Lohn abgezogen wird, dass aber nicht wenige der Reichen sich dieser Pflicht entziehen können, weil sie daran viel zu wenig gehindert werden. Zudem ist es sozialethisch ein Ärgernis, wenn Gewinne privatisiert, Verluste und ökologische Schäden sozialisiert werden.
- Diese Schwächung des Sozialstaats erfolgt just in einer Zeit, in der dank der wachsenden Lebenserwartung dieser um- und ausgebaut werden muss. Verschärfend kommt die rasche Einführung der Industrie 4.0 dazu, auf den die Finanzierung des erweiterten Sozialstaates abgestimmt werden muss. Sonst kommen die ohnedies schon überforderten Familien mit der Pflege und Betreuung von Angehörigen nicht zurecht. Es ist unverzichtbar, eine faire Finanzierung des Pflegebedarfs vorzusehen. Dass dazu ein Paket von Maßnahmen nötig ist, versteht sich von selbst. Das muss nicht primär über neue Steuern laufen, obwohl für engagierte Christinnen und Christen solche nicht grundsätzlich tabu sind, solange sie gerecht sind. Aber das Budget könnte beispielsweise mehr in die Pflege denn in das Pensionssystem investieren, vorausgesetzt, das Pensionsalter wird rascher angehoben. Das wäre eine Parallelisierung des ansteigenden Lebensalters mit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Aber auch diese Maßnahme wird allein nicht reichen.
- Die Religion ist nach Jahrhunderten der aufgeklärten Privatisierung der Religion auf die politische Bühne zurückgekehrt. Es ist gut, dass Österreich dank seiner historischen Erfahrungen eine gute Politik hinsichtlich des Islams macht. Dabei ist zu beachten, dass nicht „der Islam ins Land kommt“, sondern immer Menschen mit einem Schicksal und mit Hoffnungen. Es ist gut, dass der Staat dem Islam die Chance gibt, an den Universitäten an einer Vertiefung, Erneuerung und Reinigung der eigenen islamischen Tradition zu arbeiten. Die Politik wird in Zukunft viel dazu tun, den Religionsfrieden zu fördern. Jegliches unbedachte Spiel mit einem Feindbild Islam schadet diesem friedlichen Miteinander der Religionen. Zudem ist die Gesellschaft auf die solidarischen und moralischen Ressourcen unterschiedslos aller Religionsgemeinschaften dringlichst angewiesen. Wer eine Religion schwächt, schwächt letztlich alle.
- Unser Land ist derzeit in vielen Fragen gespalten. Gefühle überwiegen. Ängste haben sich breitgemacht. Aufgabe staatsmännischer Politik ist es, die unterschiedlichen Positionen zusammenzuhalten, den Ausgleich zu suchen, die irrationalen Ängste nicht zu schüren, sondern in berechtigte Sorge und durch weitsichtige Politik in engagierte Zuversicht zu verwandeln. Es ist Franklin D. Roosevelt Recht zu geben, wenn er sagt: „The only thing we have to fear is fear itself“ (Das Einzige, wovor man Angst haben soll, ist die Angst selbst), so in seiner Antrittsrede als US-Präsident just 1933.
- Es sind weiterführende politische Initiativen zu entwerfen, Politik aktiv und proaktiv zu machen, nicht nur Vorschläge zu machen und diese dann lediglich medial zu erörtern. Es bedarf neuer Visionen, Strategien für unser Land und eine Personalentwicklungspolitik, damit Menschen sie sachkundig umsetzen können. Politik ist ein verdammt komplexes Handwerk, das zu lernen ist! Wer aus Wahltaktik populistisch Ängste schürt, handelt politisch nicht staatsmännisch und schadet dem Land, mag er auch kurzfristig der Partei nützen. Wer die Angstgeister ruft, wird sie nicht mehr los. Gemäß der immer wichtiger werdenden Katholischen Soziallehre, welche die Balance zwischen Freiheit und Gerechtigkeit um des Gemeinwohls willen sucht und die Würde jedes Menschen einmahnt, ist es geradezu die Pflicht der Regierung, die Spannungen im Land auszutarieren, etwa zwischen der Verantwortung für die eigene Bevölkerung und der Sorge um die schutzsuchenden Menschen und deren Familien. Eine ähnliche Spannung herrscht heute zwischen dem Bekämpfen eines politischen Islamismus, den es tragischer Weise gibt, und dem Zusammenleben mit den Muslimen. Das öffentliche Bekenntnis, dass Muslime zu uns gehören und der Islam eine in Österreich gesetzlich anerkannte Religion ist, muss der ausdrückliche Rahmen sein für jede Kritik. Einseitige Interventionen beheben nicht die Spannungen, sondern vertiefen die Spaltung der Gesellschaft.
Zur politischen Kultur
Ich will noch eine Anmerkung zur politischen Kultur machen. Die Menschen im Land, zumal die Jungen, sind die derzeitige Umgangsweise in der Politik müde. Das hat leider den Ruf der Politiker und das politische Interesse in Mitleidenschaft gezogen. Die Jungen haben tragisch wenig Interesse, wie von der Politik ihre Zukunft gestaltet wird. Dabei übersehe ich nicht, dass sich viele ältere Personen in der Politik redlich engagieren und für das Land viel Gutes erreicht haben. Neue Leute in der Politik können viel beitragen, sie ersetzen aber nicht das Engagement und die Mitarbeit der Jungen. Mehr talentierte junge Menschen für die Politik zu gewinnen, ist ein wichtiges Ziel. Denn es wird jetzt über deren Zukunft entschieden, hinsichtlich Wirtschaftsfragen ebenso wie hinsichtlich des Klimawandels. Es ist auch nicht zuzulassen, dass die Ängste eines Teils der älteren Bevölkerung – vor sogenannten Fremden, vor allem aber vor den nötigen Veränderungen –die Zukunft aufs Spiel setzen und heute soziale und kulturelle Konflikte säen, die unsere Kinder austragen müssen
Es braucht daher dringend eine neue politische Kultur. Eine solche lebt von einer attraktiven Vision, von der heute in den politischen Auseinandersetzungen nicht viel zu spüren ist. In welcher Welt, in welchem Europa, in welchem Land wollen wir morgen leben? Welche Vision vertreten die Politiker im Wahlkampf? Auch dazu erlaube ich mir ein paar unsortierte Anmerkungen.
Eine Vision für Österreich
Österreich wird (weiterhin) ein Land sein, in dem die unantastbare Würde und diskriminierungsfreie Gleichheit aller geachtet werden. Es herrscht ein geläutertes Heimatgefühl und zugleich eine angstfreie Weltoffenheit. Unser Land nimmt eine führende Rolle in einem friedvollen, freien und gerecht-solidarischen Europa wahr. Die lange errungene demokratische Freiheit wird nicht ängstlichen Sicherheitsphantasien geopfert. Unternehmerische Freiheit wird mit Gerechtigkeit für alle gut ausbalanciert. Österreich ist führend bei einer ökologischen Welt-Politik, welche das Eine Welthaus bewahrt und in diesem Gerechtigkeit für alle schafft. Das kleine Österreich im Herzen Europas wird zum Motor eines Europas der Vielfalt.
Kinder sind in unsrem Land willkommen und finden einen familialen Lebensraum geprägt von Stabilität und Liebe vor. Elterliche Menschen können das Zueinander von beruflicher und familialer Lebenszeit selbstbestimmt und finanzierbar ausbalancieren. Junge Menschen werden in ihren individuellen Fähigkeiten gut gebildet und ausgebildet und finden eine befriedigende Arbeit. Alte vereinsamen nicht, können gesund altern und erhalten gegebenenfalls eine gesicherte Pflege oder Rundumbetreuung mit geeigneten Pflege- und Betreuungskräften, die von den betroffenen Pflege- und Betreuungsbedürftigen in Vertrauen aufgenommen werden, die auch angemessen bezahlt werden. Es gibt im Land zumindest kein Kind, keine KünstlerInnen, keine PensionistInnen, die unter der Armutsgrenze leben.
Groß wird Österreich in der internationalen Völkergemeinschaft sein wegen der hohen Menschlichkeit im Land, die auch in der grauenhaften Zeit der Shoa nicht erloschen ist. Groß kann es sein wegen, seiner historischen Gastfreundschaft für Bedrängte, wegen der Freiheit der Künste und der Musik, die in aller Welt erklingt. Es soll nicht zum Land der Zäune und nationalistischer Enge werden, sondern das Land bleiben, in dem erstmals die Hymne aus der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven erklang, dass alle Menschen Brüder (und Schwester) werden, die Humor haben, einander in Leid und Trauer beistehen und miteinander sich des Lebens freuen.
Eine solche mitreißende Vision wird vielen Menschen wieder Lust auf Politik machen. An ihr orientiert könnte Österreich eine führende Rolle in der Europa- und in der Weltpolitik übernehmen. Dabei ist es wichtig, dass die Regierenden den Menschen nicht vorgaukeln, dass alles so bleiben kann, wie es ist, ihnen aber auch keine Angst machen, sondern offensiv Zukunftsperspektiven benennen. Und das wird möglich, wenn Österreich sich für europäische und internationale Vernetzung stark macht.
Das ganze Land braucht auch in Zukunft Menschen guten Willens in allen Parteien, die sich in ihrem politischen Handeln an den biblischen Idealen und den Visionen aller Weltreligionen, aber auch an den hohen ethischen Idealen mancher, die nicht an einen Gott glauben, orientieren und damit der Politik ein menschliches Angesicht geben. Es wäre ein Segen für das Land.
Wien, im August 2017
Mir gefällt der Artikel sehr gut. Lediglich zur Aussage „Aber das Budget könnte beispielsweise mehr in die Pflege denn in das Pensionssystem investieren, vorausgesetzt, das Pensionsalter wird rascher angehoben.“ erlaube ich mir eine Anmerkung: Eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters bei gleichzeitiger hoher Arbeitslosigkeit hat einen Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit zur Folge. wohl kein erstrebenswertes Ziel.
Die Diskussion über eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters macht erst Sinn, sobald wir Vollbeschäftigung erreicht haben.
Pingback: Fluchtursachen sehen und den Menschen helfen: Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik | Die Christenheit
Lothar Müller 2017-09-02
Herrn Univ.Prof.Dr. Paul M. Zulehner
Universität Wien
Lieber Paul!
Vor kurzem haben mich unsere Seelsorgeamtsleiterin Elisabeth Rathgeb und dann mein Chef Andreas Krzyzan auf Deine „Orientierung für ChristInnen bei der kommenden Wahl“ (man könnte vielleicht auch „Wahlen“ sagen), aufmerksam gemacht.
Ich danke Dir herzlich für diesen Beitrag und darf dazu einige Hinzufügungen bzw. Anmerkungen machen.
Zuerst zur Frage, ob sich aus dem Evangelium „unmittelbar die alltägliche Politik ableiten“ lasse oder ob dieses „nur“ eine Art
„Grundorientierung für die Politik“ abgebe: ich muß noch nachdenken, ob ich einen Bereich finde, in dem es nicht – zumindest bei der Güterabwägung – sehr unmittelbar wirksam werden könnte. Wenn ich von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen ausgehe, dann hat sich die Politik logischerweise in jedem zu behandelnden Bereich die Frage zu stellen, welche Auswirkungen Entscheidungen für die jeweils Schwächsten hat. Ich habe das soeben den Präsidenten der sozialpartnerschaftlichen Verbände zu ihrem gemeinsamen Vorstoß „Investitionen in eine nachhaltige Zukunft“ geschrieben. Allen Herren Präsidenten – weil es für alle – ob ArbeitnehmerInnen, Selbständige, Bauern usf. gilt.
Je älter ich werde umso begeisterter werde ich von den Gleichnissen Jesu. Abgesehen von seiner Gottessohnschaft – er war ein blitzgscheiter, vorausschauender Mensch. Der gesehen hat, wie die ewiggleichen Probleme, Herausforderungen und Sünden die Menschen und ihr Zusammenleben belasten. Damals wie heute und morgen! Nehmen wir nur den „Barmherzigen Samariter“ und stellen wir uns noch vor, was die Leute in der Herberge über ihn gesagt, gelästert haben! Damals, heute,morgen.
Du zählst in den „Variationen“ so ziemlich alles auf, was uns Probleme bereitet. Ich erfuhr als früherer Mandatar und erfahre jetzt eine Kirche, die sich ununterbrochen in diesen Bereichen abmüht! Vielleicht ist sie zu brav, zu sehr auf Sitzungen, Verhandlungen hin orientiert. Wie oft haben die VertreterInnen christlicher Entwicklunghilfeorganisationen auf die Verstärkung der Mittel zur Abmilderung der schon erkennbaren Fluchtursachen hingewiesen! Wieviel allein hat Reinhold Stecher mit der Aktion „Wasser zum Leben“ allein in Mali erreicht! Es seien jetzt an die einhunderttausend Menschen, die in ihren Dörfern (über)leben können. Und die Aktivitäten der Jesuiten kennst Du ja besser als ich. Was bei den „Variationen“ noch deutlicher gemacht werden könnte: Die Situation der „working poor“. Die Folgen der (weiteren) Senkung der „Lohnnebenkosten“ – die ganz konkrete Reduktionen der sozialen Sicherheit zur Folge hätten. Niemand soll ja unter die Armutsgrenze fallen – wie Du richtig forderst. In diesem Zusammenhang ist auch auf die soeben berichtete Stagnation der Löhne hinzuweisen.
Du führst auch den Klimawandel und seine Folgen an! Diese werden – auch in unseren Breiten – fürchterlich werden! Wir hatten gestern anlässlich der Verabschiedung von Eric Veulliet, bisher Geschäftsführer
des Naturgefahrenkompetenzzentrums alpS, eine intensive
Aussprache. Worst Case für die Alpenregion: sechs Grad Erhöhung! Das Ende der gewohnten Sicherheit! Du, viele von uns,v.a. Franziskus warnen seit Jahren – meist ungehört.
„Meist ungehört“ – von Entwicklungszusammenarbeit über
Mindestsicherung bis Klimawandel – warum ist das so? Obwohl die
Kirche über das allerhöchste Mitgliederpotenzial, über ein gewaltiges
Netzwerk an Haupt – und Ehrenamtlichen, Vereinen und Verbänden verfügt. Da müßten sich doch alle PolitikerInnen und Parteien geradezu fürchten. Tun sie aber nicht. Richtigerweise, weil es schon eine Trennung von Staat und Kirche geben muß! Eine Zeit regierender
Monsignores und Beichtzettel darf es nie mehr geben! Auch nicht im
Interesse der Kirche! Jesus will das persönliche, nicht das kollektive Christentum a la „Christliche Seefahrt“, Christliche Staaten. Die Politik braucht sich aber auch um die gesellschaftlich höchst notwendige kritische Funktion“ der Kirche nicht besonders zu kümmern – weil:
– sie oft eine Sprache spricht, die nicht verstanden wird.
– weil sie aufgrund eigener Blödheiten, Sünden und Machtanfälligkeit zu einer „Entschuldigungskirche“ verkommen ist – von
Missbrauchsopfern über Juden, Galilei bis hin zu Finanzexzessen. Ich bin schon gespannt, wie sie sich vor den Frauen entschuldigen wird!
– weil sie über eine Menge an Vereinen und Verbänden verfügt, die eher sich als das Ganze, die Verpflichtung zum Auftrag sehen.
Es gibt noch eine Schwäche, die aufgezeigt werden muß – sie geht über
die Kirche hinaus. Sie betrifft v.a. die sog. „Normativen
Wissenschaften“ – etwa Recht und Ethik. Diese müßten sich weit intensiver als bisher mit der Entwicklung von Forschung und Technik auseinandersetzen. Aktiv und proaktiv – wie Du von der Politik forderst. Sie müßten zumindest in der Lage sein, grundlegende Orientierungen parallel zur Entwicklung gesellschaftlich relevanter Technologien zu geben. Risikoforschung einzufordern usf.
Lieber Paul! Ich hoffe sehr, dass Dein Denkanstoß Früchte trägt. Sowohl bei der Grundorientierung der ChristInnen, aber auch hinsichtlich ihres Selbstbewusstseins. Wir haben von Jesus das beste „Programm“ – ich denke dabei v.a. an die Nächsten – und auch an die „Feindesliebe“ bekommen. Gott hat wirklich seinen Job getan – wir wüssten, wie`s gehen könnte. Doch noch gehen könnte.
Herzlich Dein alter Lothar