Fürchtet euch nicht!

Frohe Weihnachten 2015!

722 vor Christus war für das alttestamentliche Gottesvolk ein dramatisches Jahr. Es lebte damals gespalten im Nordreich mit dem Namen Israel und im Südreich namens Juda. In dieser Zeit wurde das neuassyrische Reich übermächtig. Seine Herrscher setzten das Nordreich massiv unter Druck. Drei Jahre belagerten sie die  Hauptstadt Samaria. Danach wurde diese eingenommen. Diese kriegerischen Ereignisse lösten eine Massenflucht der Israeliten des Berglandes südlich Samarias  in Richtung „Juda“ aus.

Bis heute kann man die Folgen des gewaltigen Flüchtlingsstroms in der Hauptstadt des Südreichs Juda, nämlich in Jerusalem, und den Städten seiner Umgebung sehen. Ihre Bevölkerung ist durch die Zuwanderung sprunghaft angestiegen. Unter König Hiskija wurde deshalb das alte Jerusalem erweitert. Eine enorme Wohnbautätigkeit setzte ein. Eine „Zweitstadt“ („Mischne“) wurde errichtet. Sie umfasste das jüdische und armenische Viertel in der heutigen Altstadt und den Westhügel. Auch der Osthügel, der traditionelle Berg Zion, wurde jetzt voll besiedelt.

Im späteren Gefolge dieses Massenansturms von Fremden und Asylanten könnten die Fremdengesetze des Buches Deuteronomium entstanden sein, so der emeritierte Alttestamentlicher Georg Braulik, Spezialist für das Deuteronomium, das fünfte Buch Mose, dem ich diese historischen Hinweise verdanke. In diesen Fremdengesetzen ist der spirituell schwergewichtige Satz zu lesen:

„Gott liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung – auch ihr sollt die Fremden lieben!“ (Dtn 10,18.19)

Wer also die Fremden liebt, ahmt Gott nach. Eine stärkere spirituelle Ermutigung kennt die Bibel nicht. Gott ist bei den Fremden. Die Fremden, Witwen und Waisen, die damals keinen Grund und Boden besaßen, waren armutsgefährdet. Wird Armen aber nicht geholfen und schreien sie zu Gott, dann hört er sie, so die Heiligen Schriften (Dtn 15,9).

In einem Interview in der Kärntner Kirchenzeitung erläuterte Braulik auch die alttestamentliche Regelung des gleichen Buches Deuteronomium zu Flüchtlingen – ich zitiere ihn wörtlich:

„Wenn ein fremder Sklave aus welchen Gründen auch immer seinem Herrn entflieht – und ‚Sklave‘ reicht vom Minister bis zum Knecht – , dann muss er in Israel aufgenommen werden. Er hat [zudem] ein einzigartiges Privileg: Er kann sich selbst den Ort aussuchen, wo er künftig wohnen will. Außerdem darf er nicht ausgebeutet werden (Dtn 23,16.17). Das alles ist einmalig im Alten Orient. Der Fremde und Flüchtling soll in Israel, im Volk Gottes, als gleichberechtigter Bruder behandelt werden.“

Erneut Massenflucht

Im vergangenen Jahr sind mehr als eine Million Menschen vor den vielen Kriegen in Afghanistan, Syrien und dem Irak nach Europa geflohen. Gar viele sind auf dem langen Fluchtweg umgekommen. Erschüttert hatte die Weltöffentlichkeit das Foto des an der türkischen Küste angeschwemmten dreijährigen Aylan Kurdi.

Wie um 722 findet also neuerlich eine Massenflucht statt und wir erleben diese ganz nah. Ihr Ende ist noch nicht abzusehen. Der Weg zu einem stabilen Waffenstillstand in Syrien, zu einer Befriedung Afghanistans, zu geordneten politischen Verhältnissen im Irak ist weit.

Dazu kommt, dass es viele Menschen aus Afrika gibt, die nach Europa drängen. Ein Priester aus Nigeria, der bei mir in Wien promovierte korrigierte mich einmal, als ich mich gegen den Begriff „Wirtschaftsflüchtlinge“ verwehrte und vorschlug, stattdessen von „Armutsflüchtlingen“ zu reden. Er sagte uns im Seminar, dass auch dieses gewiss bessere Wort nicht den Kern treffe. Es sei nicht unbedingt die Armut, vor der afrikanische Menschen fliehen. Was solle denn ein Familienvater mit seiner Frau und sieben Kindern und dazu noch die Großeltern und die unverheirateten Personen aus der nächsten Verwandtschaft tun, wenn er sie nicht ernähren kann – noch mehr, wenn er keine Hoffnung hat, dass sich das in den nächsten Jahren ändern werde? Ich solle daher statt von „Armutsflüchtlingen“ von „Hoffnungsflüchtlingen“ reden. Immer mehr finde ich seinen Vorschlag angemessen.

So wichtig es ist, eine feinfühlige Sprache für die vielen Einzelschicksale zu finden: Noch wichtiger ist es, Lösungen zu erarbeiten einerseits für die Schutzsuchenden, aber auch für unsere eigene Bevölkerung. Denn was nützt der gute Wille der Politik, wenn die Menschen nicht mitmachen?

Die Menschen im Land reagieren auf die gewaltigen Herausforderungen höchst vielfältig. Die einen haben Ängste. Die Angst wiederum führt zur Abwehr, zum Widerstand gegen die Flüchtlinge. Bei manchen kippt die manchmal sehr diffuse Angst in blanken Hass. Es bedrückt, dass die Kriminalität gegen Flüchtlinge und Unterkünfte ums Vierfache zugenommen hat. Politisch kurzsichtig ist es, gar Ängste noch zu schüren und wahltaktisch auszubeuten.

Andere Menschen im Land, darunter viele junge, sind in zuversichtlich. Sie packen an, setzen sich ein, in Pfarrgemeinden, Ordensgemeinschaften, in zivilgesellschaftlichen Einrichtungen. Helmut Schüller errichtet zusammen mit der Caritas in der Pfarre Probstdorf gerade Container für Flüchtlingsfamilien. Die Verantwortung für das Containerdorf trägt ein 22jähriger BWL-Student. Die Jugendgruppe, und selbst die Gruppe der Firmlinge, engagieren sich. Die Pfarrgemeinde ist für eine wachsende Zahl von jungen Menschen wieder attraktive geworden.

Dazwischen sind die Besorgten. Sie haben – wie wir alle – viele schwerwiegende Fragen: Wird die Integration gelingen? Lernen die Aufgenommenen rasch unsere Sprache? Gibt es für sie genug Wohnungen? Haben wir nicht selbst im Land schon genug Arbeitslose? Wird es nicht zu einer Ausbeutung der Flüchtlinge zu Dumpinglöhnen kommen? Braucht es nicht eine Obergrenze? Ist das Boot nicht voll? Kommen mit den Flüchtlingen nicht auch Terroristen ins Land?

Fürchtet euch nicht!

Vielleicht ist in dieser Zeit die Botschaft von Weihnachten zwar nicht die Lösung. Mir aber ist sie eine starke Ermutigung. „Fürchtet euch nicht“, ruft der Engel den Hirten zu. Das wäre schon gut, könnte die gesichtslose Angst, die in uns Gefühle der Abwehr der Flüchtlinge auslöst, in rationale Besorgnis gewandelt werden, die uns handlungsfähig macht. Jede und jeder, der heute Gott nachahmt und sich für die Fremden in irgendeiner Weise stark macht, ist ein Segen für alle, die Angekommen, für unser Land, für uns selbst. Wie aktuell ist doch eine Mahnung aus dem Hebräerbrief: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ (Hebr 13,2)

Frieden auf Erden

Zum „Fürchte Dich nicht!“ kommt der Wunsch des Engels nach Frieden auf Erden. Darum ringt derzeit die Weltpolitik. Im Sicherheitsrat wurden erste zaghafte Schritte zu einem Waffenstillstand und zu einer politischen Lösung für Syrien gemacht. Papst Franziskus, dem neben der Armutsbekämpfung und der Sorge um die Schöpfung der Frieden in der Welt so sehr am Herzen liegt, hat sich erleichtert gezeigt. Nur wenn die Ursachen der Flucht nach und nach beseitigt sind, werden weniger Menschen nach Europa drängen und von den Aufgenommen gar viele wieder in ihre Heimat zurückkehren. Hört der Krieg auf, braucht es auch keine Diskussion über Obergrenzen mehr.

Mögen der Wunsch des Weihnachtsengels in der von Krieg gezeichneten Menschheit neue Wirkkraft bekommen. Auf dem langen Weg zum Frieden soll uns sein Zuruf begleiten: „Fürchtet Euch nicht!“

 

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Eine Antwort zu Fürchtet euch nicht!

  1. Johanna Spöth schreibt:

    Wie gut zu all den politischen Hasstiraden, Angstmacherei und Hetze auch einmal einen positiven Input zu lesen !“

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